von Dr. sc. phil. Marion Kauke
"Wenn Sie heute einem Pädagogen die Forderung vorgetragen, in der Woche müsse von den Schülern mindestens eine Stunde Schach gespielt werden, dann wird er den Stundenplan vorrechnen und das als unmöglich erklären. Der Fehler liegt darin: Im Zeitalter der Informationsexplosion ist es sowieso nicht mehr möglich, einen Gesamtüberblick über die Wissenschaften zu geben. Wir müssen immer mehr dazu übergehen, das Erlernen von Fakten durch das Erlernen von Methoden zur Gewinnung und Deutung von Fakten zu ersetzen. . . Schach würde jedem Schüler helfen, sich exakte Denkmethoden zu erarbeiten."
Diese richtungsweisende Auffassung des schachkundigen Philosophen und ehemaligen Präsidenten des Deutschen Schachverbandes der DDR, Georg Klaus, bedurfte einer Betätigung durch wissenschaftlich exakte Untersuchungen. Erste Ergebnisse wurden auf der Wissenschaftlichen Konferenz des Deutschen Schachverbandes der DDR im Jahre 1972 in Halle vorgetragen. Moderne Unterrichtsexperimente in der UdSSR belegten den logikschulenden und schulleistungsfördernden Wert des Schachspielens. Inzwischen hat das spezifische Forschungsinteresse internationale Dimensionen angenommen. So wurde im November 1982 auf dem 53. Kongress des Weltschachverbandes in Luzern (Schweiz) ein Forschungsprojekt aus Venezuela zur Förderung der Intelligenz vorgestellt, worin Schach als ein Hauptwerkzeug rangiert. Das methodisch gelehrte Schach – so wurde berichtet – habe bereits in sechs Monaten den Intelligenzquotienten der daran beteiligten Schulkinder und Lehrer angehoben. Auf dem Internationalen Schulschachkongress in Hamburg 1984, an dem über 60 Teilnehmer aus 14 Nationen teilnahmen, wurden weitere Forschungsaufgaben diskutiert.
Ausgehend vom Schachspiel als Anhäufung von Problemsituationen und vom Denken als kognitiver, auf das Lösen von Problemen gerichteter Informationsverarbeitungsprozess, beschäftigten sich auch Wissenschaftler der DDR seit 1982 verstärkt mit den denkfördernden Potenzen des Schachspiels und versuchten, sie empirisch nachzuweisen. So wurde an der Sektion Psychologie der Leipziger Universität eine Diplomarbeit verteidigt, welche die intellektuelle Lernfähigkeiten mit Hilfe teilprogrammierter Ausbildung im Schachspiel bei Schulkindern einschloss. Es wurde geprüft, ob sich nichtschachspielende Jungen im Alter von 13 bis 14 Jahren von Altersgefährten, die bereits eine fünfjährige Ausbildung in einer Schach-Arbeitsgemeinschaft erhalten hatten, in maßgebenden Intelligenztestwerten (geprüft mittels Intelligenz-Struktur-Test von Amthauer) unterscheiden. Erwartungsgemäß wurden höhere Werte für das sprach- und zahlengebundene Denken der Teilnehmer an den Schach-Arbeitsgemeinschaft gefunden. Diese Kinder verfügen auch über eine bessere räumliche Vorstellungsfähigkeit (soweit diese sich in den betreffenden Intelligenztests erfassen lässt). Ihre Aufmerksamkeit für Details war ebenfalls deutlich höher ausgeprägt (s. Tabelle 1). Die Ergebnisse sind signifikant. Besonders interessant sind die Unterschieden in der Fehlerzahl. Die nichtschachspielenden Schüler lösten zwar in einigen Fällen ähnlich viele Aufgaben wie die Schachspielenden, aber weniger davon richtig. Die Ergebnisse entsprechen im wesentlichen den früher von Schipper ermittelten, der eine naturwissenschaftlich-praktische Ausrichtung der Intelligenzstruktur (sogenanntes W-Profil) als kennzeichnend für Schachspieler erkannte.
Um herauszufinden, ob das Schachspiel bei unterschiedlich veranlagten Kindern (d. h. nicht nur solchen, die bedingt durch vorteilhaft ausgeprägte biologische Basiskomponenten zentralnervöser Informationsverarbeitung oder günstige Erziehungseinflüsse eine spezielle Neigung für das Schachspiel entwickeln) intellektuelle Lernpotenzen fördert, wurden als nächster Schritt die wissenschaftlichen Kontrollbedingungen in der Untersuchung verstärkt. Es wurden je zwei Hortgruppen von sieben-, acht- und neunjährigen Kindern mit einem relativ gleichwertigen Zensurendurchschnitt und Disziplinniveau ausgewählt und in ihren Ausgangswerten für die logisch-schlussfolgernde Denken verglichen. Dieser Anfangstest ergab zunächst keinen statistisch bedeutsamen Unterschied zwischen den Versuchs- und Kontrollgruppen. Jedoch bereits nach sechs Monaten systematischen Schachunterrichts in 20 Doppelstunden auf der Basis eines teilprogrammierten Lehrprogramms verbesserten sich die Leistungen im schlussfolgernden Denken für die besonders schwierigen Testaufgaben im Raven-Figuraltest (Erwachsenenform) merklich (s. Tabelle 2).
Um das Lehrprogramm auch bei geistig minder befähigten Kindern (z. B. Hilfsschülern anzuwenden, muss es jedoch erheblich modifiziert, d. h. wesentlich langsamer und aufgelockerter dargeboten werden. Die Schachspieler lösten bei gleichen Zeitlimit durchschnittlich etwa 11,5 Prozent der Denkaufgaben sorgfältiger als jene Schüler, die inzwischen eine Arbeitsgemeinschaft für Basteln, Chor oder künstlerisches Gestalten besucht hatten. Die Teilnehmer am – zu Untersuchungszwecken eingerichteten – Schachzirkel offenbarten nicht nur ein größeres Interesse die Probleme zu lösen und wirksamere Strategien beim Denken und Handeln, sondern auch zunehmend tiefgründige Gedankengänge, schöpferische Eigenwilligkeit und eine verstärkte Disziplin in der geistigen Arbeit.
Das Schachspielen befördert die Herausbildung geistiger Leistungsfähigkeit. Dafür sprechen auch die Befunde zu kognitiven Stilmerkmalen (Reflexität versus Impulsivität). Es handelt sich dabei um Gütemerkmale des Denkens, bei denen Schnelligkeit und Exaktheit von Problemlösungen ins Verhältnis gesetzt werden. Mittels Matching-Familiar-Figur-Test (MFF) wurden 231 schachspielende Schüler und Jugendliche (davon 199 zwischen 7 und 15 Jahren, die restlichen älter; 106 männlich und 125 weiblich) im Spezialistenlager Wilhelmsthal bei Eisenach im Feriensommer 1983 untersucht und mit gleichaltrigen Schulkindern verglichen. Die schachspielenden Schüler durchdachten Problemsituationen gründlicher. Sie unterschieden sich bei daraus folgenden Entscheidungsfindungen bemerkenswert markant von ihren nichtschachkundigen Altersgefährten. Letztere waren impulsiver, entschieden rascher, aber signifikant fehlerhafter.
Diese Unterschiede offenbarten sich auch in nichtschachlichen standardisierten Aufgaben, die es – ansatzweise – ermöglichen, den Denkprozess beim Problemlösen psychodiagnostisch zu erfassen. Dazu zählt der "Turm von Hanoi". Bei dieser Aufgabe wird gefordert, ungleich große Scheiben von einer Anfangsposition B so nach Zielposition C zu plazieren, dass sie wiederum der Größe nach geordnet liegen, ohne dass dabei eine größere auf einer kleineren Scheibe zu liegen kommt. Die Zahl der Scheiben kann variiert und der Schwierigkeitsgrad der Aufgabe damit verändert werden. Stets kommt es darauf an, mit einer effektiven Zahl von Zügen das Problem zu lösen. Schachspieler entwickelten ausnahmslos – i Gegensatz zu den untersuchten nichtschachkundigen Schulkindern und Studenten – effektivere Lösungsstrategien; sie probierten nicht ziellos herum ("Versuch-und-Irrtum"). Ihre Lernersparnis beim Lösen dieses außerschachlichen Problems war signifikant ausgeprägt. Das ist ein Argument für die prinzipielle Übertragbarkeit schachlich erworbener Leistungspotenzen auf darüberhinaus reichende Anforderungen.
Intelligenz- und Konzentrationsunterschiede zwischen schachspielenden und nichtschachspielenden Jungen der Altersklasse 13/14 Jahre
Test Intelligenz- Untertests Prüfwerte für differenzierte Kriterien
komponente Rohwerte Anzahl gelöster Fehler F
(richtige Lösungen) Aufgaben GZ
GZ-F
IST Sprachgebun- Analogien 3,44 xx - 3,58 xx
denes Denken Gemeinsam-
keiten 2,81 xx 3,32 xx 1,31 -
Zahlengebun- Rechenauf- 5,11 xxx 5,75 xxx 1,22-
denes Denken gaben
Zahlen- 6,36 xxx 1,47 - 3,80 xxx
reihen
Räumliches Figuren- 4,51 xxx 3,90 xxx 1,30 -
Vorstellungs- auswahl
vermögen Würfelauf- 4,02 xxx 2,22 xxx 3,62 xxx
gaben
d² Konzentra- 4,95 xxx 5,46 xxx 1,26 -
tionskompo-
nente
Interpretation:
Der Unterschied ist mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von
xxx nur 0,1 % höchstbedeutsam IST - Intelligenz-Struktur-Test xx nur 1,0 % hochbedeutsam (nach Amtshauer) x nur 5,0 % bedeutsam d² - Konzentrationstest unbedeutsam (nach Brickenkamp)
Die Lektionen des Lehr- und Ausbildungsprogramms zum Erlernen der technischen Grundelemente mit Stoffaufgliederung:
Das fehlerhafte logisch-schlussfolgernde Denken ist als sogenannter Kernfaktor der Intelligenz nicht nur ein relativ gültiges Vorhersagekriterium für den Schulerfolg, sondern auch eine wesentliche Basis für schöpferische Ideenfindungen. Schachspielen ist nach Klix als "Problemlösungsprozess" beschreibbar, bei dessen Bewältigung heuristische Denkstrategien notwendig sind". Es fordert neben logischem Denken in hohem Maße schöpferisches Problemlösen. Dafür sind Merkmale wie Oiginalität, Flüssigkeit bzw. gedankliche Beweglichkeit, Elaboration, d. h. Ausarbeitung von Ideen, wesentlich. Diese Verlaufsqualitäten des Denkens werden im Schachspiel besonders an selbstgefundenen Kombinationen deutlich.
Kombinationen sind Kulminationspunkte des kreativen Denkens in einer Schachpartie. Insofern lag der Gedanke nahe, Komponenten schöpferischen Denkens mittels kombinationsgestützem Schachtraining auszubilden. Für diese Untersuchungszwecke wurde ein zehn Lehrstunden umfassendes Kombinationstrainingsprogramm ausgearbeitet. Es enthielt über den Grundlehrgang hinaus verstärkt Kombinationsaufgaben, d. h. relativ einfache Probleme sowie Endspiele (Ein- und Zweizüger) und spezielle Mattkombinationen mit verschiedenen Motiven (z. B. Ablenkung). Durch einige Versuchsreihen, in die insgesamt 209 Schüler und Schülerinnen (relativ gleichanteilig) der 3. bis 8. Klassen (mit dem Untersuchungsschwerpunkt 5./6. Klasse) einbezogen waren, gelang es in einer Erkundungsuntersuchung erstmals nachzuweisen, dass schöpferische Produktivität durch schachmethodisch geführten Unterricht in einem Zirkel rationell stimuliert werden kann. Der Erfolg zeigte sich bereits nach fünfeinhalb Monaten systematischer Schachunterweisung und wurde mit dem Torrance-Figural-Test nachgewiesen. Bei diesem Kreativitätstest werden die Kinder aufgefordert, ungewöhnliche Ideen zu entwickeln.
Bewertet wird der Test nach Richtlinien, die es ermöglichen, Seltenheit, Anzahl, Unterschiedlichkeit und detaillierte zeichnerische Ausarbeitung der Ideen zu beurteilen. Danach steigerten die versuchsweise trainierten Schüler ihre Kreativitätswerte durchschnittlich um 18,3 Prozent in der Flüssigkeit, um 0,06 Prozent in der Flexibilität , um 60,6 Prozent in der Originalität und um 55,3 Prozent in der Ausführlichkeit. Sie übertragen damit ihre Mitschüler, die nur in der Freizeit gelegentlich Schach spielten oder jene, die diesen Denksport gar nicht ausübten.
Höhe des Zusammenhangs zwischen Schach- und Mathematiknote bei Schülern aus dem Schachdorf Ströbeck
Schulklasse Anzahl der Schüler Korrelationskoeffizient 4a 18 0,87 4b 16 0,62 5a 16 0,85 5b 16 0,89 6a 16 0,76 6b 15 0,79 7 27 0,60 8 26 0,44
Da die Pädagogisierungsphase (d. h. Einwirkungszeit des Schachprogramms) relativ kurz war, blieb die Frage nach dem Einfluss eines mehrjährigen kontinuierlichen Schachtrainings einschließlich ausgedehnter Spielpraxis (Klassen- und Schulturniere) für die geistige Leistungssteigerung offen. Für nähere Aufschlüsse darüber bot sich eine Untersuchung in der Emanuel-Lasker-Oberschule im Schachdorf Ströbeck an. Bekanntlich wurde Schach als Schulfach 1823 in Ströbeck eingeführt. Gegenwärtig wird es ab der 3. Klasse mit einer Schulstunde gelehrt. Es ist für alle Schüler Pflichtfach, wird bewertet und erscheint mit einer Note auf dem Zeugnis. Verglichen wurden Ströbecker Schüler der 6. Klasse mit gleichaltrigen Gruppen aus Espenhainer und Leipziger Schulen, die schachkundig waren und kurzfristig mit dem Kombinationstrainingsprogramm vertraut gemacht wurden. Dabei ergab sich signifikant höhere Elaborations- und Originaltiätswerte für die Ströbecker Schüler.
Die Flexibilität wird nur unbeträchtlich gesteigert, was einen fehlenden Transfert – Mitübertragung des Gelernten auf andere zuvor nicht geübte Probleme – vermuten lässt. Dennoch konnte die Ströbecker Mathematiklehrerin durch statistische Berechnungen belegen, dass der Zusammenhang zwischen Schacherfolg (beurteilt an der Schachnote) und Ergebnis in der naturwissenschaftlichen Fächern der Schüler verschiedener Klassenstufen überzufällig hoch ausgeprägt ist (Tabelle 3).
Die Ursachen für die Abweichungen in den verschiedenen Schulklassen sind noch ungeklärt. Zu vermuten ist ein Netz von Größen, das die Höhe des Zusammenhangs beeinflusst. Darunter sind Fähigkeiten zum naturwissenschaftlichen Denken hochwahrscheinlich von ursächlichem Gewicht. Nach den berechneten Regressionsgleichungen lässt sich aus der Leistungsentwicklung im Schach der Erfolg in den naturwissenschaftlichen Fächern mit höherer Wahrscheinlichkeit vorherbestimmen als umgekehrt. Ließe sich diese Hypothese bestätigen, würde es systematisches Schachspielen ermöglichen, allgemeine intellektuelle Potenzen zu üben, auf deren Basis sich Begabungen auf verschiedenen naturwissenschaftlich-praktischen Gebieten individuell entfalten können.
Künftige Untersuchungen sollten auf anspruchsvollere Denkprozesse, auf die das Schachspiel aber erfahrungsgemäß Einfluss hat, zielen. In den referierten, von mir angeleiteten Arbeiten wurden diese nicht geprüft u. a. deshalb, weil noch geeignete psychodiagnostische Nachweismethoden fehlen. Zu solchen Denkprozessen zählen komplexere strategische Fähigkeiten, vor allem langfristige schöpferische Zielfindungs- und –realisierungsprozesse. Sie sollten einer experimentellen Prüfung mit verschärfter Bedingungskontrolle unterzogen werden. Mittels zweckmäßiger Versuchspläne sollten die Möglichkeiten und Grenzen für die individuelle Modifizierbarkeit intellektueller Potenzen durch Schachspielen und analoge Denkspiele noch genauer bestimmt werden. Wünschenswert sind Langzeituntersuchungen mit Versuchs- und Kontrollgruppen, die sich in wesentlichen physischen, psychischen und sozialen Entwicklungsbedingungen annähernd gleichen. Dadurch ließe sich auch ermessen, in welchen Entwicklungsphasen und in welcher "Dosis" die Ausbildung von Schachspielfähigkeiten den stärksten Einfluss auf die Ausprägung geistiger Leistungsfähigkeit von Kindern ausübt.
Redaktion: Dieser Beitrag wurde 2007 oder früher veröffentlicht.