Schachorganisator Hans-Walter Schmitt im Interview

April 2010

"Die Zeiten haben sich nicht nur in Mainz geändert"

Mike Rosa / Christian Bossert

Wenn der Vorsitzende des Chess Tigers Schach-Fördervereins und Geschäftsführer der neu gegründeten Chess Tigers Training Center GmbH, Hans-Walter Schmitt, über Schach spricht, glänzen seine Augen. Sei es die jährliche Chess Classic in Mainz, das neue Chess Tigers Training Center in Bad Soden am Taunus, die aktuelle Schachpolitik rund um die FIDE-Wahlen oder brandaktuell die Schachweltmeisterschaft in Bulgarien, der 58-jährige hat viele Eisen im Feuer und weiß ganz genau, wann und wie er diese zu schmieden hat. Die unermüdliche Förderung des Schachs ist die Passion des Bad Sodeners und er weiß, dass sich das königliche Spiel dort präsentieren muss, wo die Menschen sind und nicht in der kalmückischen Steppe. Vor seiner Abreise nach Sofia, wo Schmitt seinem Freund Viswanathan Anand nach Kräften bei der Verteidigung WM-Titels zur Seite stehen wird, gab er Chess Tigers-Redakteur Mike Rosa am vergangenen Sonntag das folgende ausführliche Interview.

Mike Rosa: Kürzlich sind Sie 58 geworden, doch wie man es von Ihnen gewohnt ist, haben Sie aktuell gleich mehrere Projekte, welche Sie betreuen. Ersteres ist die Chess Classic Mainz 2010, welche in diesem Jahr nicht wie gewohnt über eine ganze Woche sondern lediglich drei Tage dauern wird. Wer Sie kennt, der weiß, dass Ihnen diese Entscheidung nicht leicht gefallen sein wird. Was ist geschehen?

Hans-Walter Schmitt: Welche "Entscheidung"? Da gibt es nichts zu entscheiden, sondern nur abzuwägen. Das sind Zwänge und vor allem finde ich, "betreuen" ist charmant ausgedrückt. Die Zeiten haben sich nicht nur in Mainz geändert, sondern die unsicheren, wirtschaftlichen Verhältnisse zwingen die Sponsoren beim Geldausgeben mehr zur Objektivität. Ganz anders als in den Bundes-, Landes- und Kommunalhaushalten ist da das Patentrezept, nicht nur Geld auszugeben, sondern Geld zu verdienen, um aus der Krise zu kommen. Frau Merkel und Herr Westerwelle können sich leisten, die Zukunft unserer Kinder-Generation durch Schuldenmachen unverantwortlich aufs Spiel zu setzen, Unternehmen müssen dagegen schauen, dass sie wirtschaftlich überleben können, um Löhne und Gehälter zu zahlen.

Aus der Not eine Tugend machen, bedeutet nicht kleiner und schlechter werden, sondern schlanker und effektiver, ohne den Anspruch auf Einmaligkeit zu verlieren. Die Kernprozesse dynamisieren ist die Losung. Jeder, der mich persönlich kennt, weiß genau, dass es nicht einfach war, meinem Lieblingskind Chess960 eine Pause zu verordnen. Ich hoffe dabei, dass viele Schachfreunde daraus erkennen können, dass ich eher zur Gruppe der leidenschaftlichen Pragmatiker gehöre, als zu den blindwütigen Hasardeuren oder Schönwetterorganisatoren. Wer die Chess Classic mag, kann das in diesem Jahr unter Beweis stellen, indem er mitspielt.

MR: Aus dem großen Open haben Sie jetzt die Grenke Rapid World Championship gemacht, an welcher jeder teilnehmen kann. Sogar der amtierende Schnellschachweltmeister Levon Aronian hat zugesagt, seinen Titel in diesem Format zu verteidigen. Eine tolle Geste des Champions...

HWS: Nicht nur der amtierende Schnellschach-Weltmeister zeigt sich von seiner besten Seite. Auch unsere anderen Freunde aus der ganzen Schachwelt möchten mithelfen, die großen Anstrengungen der Chess Tigers Organisation in den letzten Jahren für dieses einmalige Turnier zu unterstützen. Wie ist es sonst zu erklären, dass der Durchschnitt der Top 10 gesetzten Spieler Elo 2737 beträgt? Auch bei den Amateuren zeichnet sich mehr und mehr ab, dass sie begeistert sind von der Konzentration auf drei Tage. Dass der Weltmeister Viswanathan Anand und die Weltmeisterin Alexandra Kosteniuk am Freitag das Turnier nicht nur durch die Pressekonferenz eröffnen, sondern ihr Publikum mit außergewöhnlichen Simultans erfreuen, lässt den echten Schach-Liebhaber auf ein einmaliges Schnellschach-Open hoffen. Wer durfte in seinem Leben schon in einer offenen Schnellschach-Weltmeisterschaft mitspielen und das mit solchen Koryphäen? Das einzige, was jeder Freund der Chess Classic Mainz tun kann, damit das Turnier auch noch seine 11. Auflage in 2011 in Mainz erlebt: Anmelden, Teilnehmen und Freunde mitbringen!

MR: Derzeit sorgen Sie mit der Gründung des Chess Tigers Training Center für Aufsehen. Was hat das CTTC den interessierten Schachlernenden zu bieten und wie können diese Ihre zahlreichen Angebote und Leistungen nutzen?

HWS: Die schon sehr umfangreiche Bibliothek der über 1500 Lektionen der Chess Tigers Universität im Internet bekommt als logische Erweiterung ein praxisorientiertes Brüderchen.

Die ganze theoretische Schachlernerei bekommt einen sehr praktischen Anwendungsteil mit den Wochenendseminaren von ausgewählten regionalen, nationalen und internationalen Trainern. Dabei werden die "Vermittlungsprozesse" wesentlich effizienter gestaltet und der Schwerpunkt auf praktisches Aneignen von Spielsituationen besonders ins Visier genommen.

Chess Tigers Training Center bei Nacht

Die Universität bekommt mit dem "echten" Partiesimulator für jeden ein weiteres, lernmotivierendes Instrument an die Hand. ("Achtung, Suchtgefahr!") Dem "Vermittler von Schachwissen", also den Trainern und/oder Jugendleitern, wird ein individuell konfigurierbares Werkzeug - "die Jukebox" - zur Verfügung stehen, mit welcher sich die benötigten Trainingsunterlagen bequem zusammenstellen lassen.

Alles in allem eine für das Schachtraining sehr geeignete systematisch und methodische Umgebung. Dazu kommen soll die Vernetzung der Generationen. Vormittags bieten wir den Senioren, nachmittags den Schülern und abends allen, die das Clubbering mögen, im Treffpunkt Schach (Chess Tigers Training Center, Brunnenstraße 9 in Bad Soden am Taunus) die Möglichkeit, Schach zu lernen und zu spielen.

MR: Vor wenigen Tagen feierten Sie erst im kleinen Kreis und danach mit einem Tag der offenen Tür die Eröffnung des CTTC. Waren Sie zufrieden mit den ersten Resonanzen?

HWS: Die Resonanz war gut und wir alle waren fürs Erste damit zufrieden. Wir wussten, dass uns noch ein bis zwei Wochen fehlten, um die "B9" für die Chess Tigers gewohnt perfekt zu präsentieren. Da wir 4 Tage vorher noch von einem außergewöhnlichen Rückschlag heimgesucht wurden, macht das Ergebnis, das für den Aufbau sorgende ganze Team zufrieden. Einigermaßen gelungen war es schon, obwohl alle sehen mussten, dass in zwei Räumen keine Flachbildschirme mehr hingen.

Die allerersten Lektionen im CTTC erteilte der Weltmeister persönlich

Das Publikum war breit gefächert und Erik Zude entdeckte sogar einen Fünfjährigen, der ihm in einer Testpartie stark zusetzte - ein echtes Talent, dem geholfen werden muss! Alles in allem ein wirklich interessanter Auftakt. Natürlich wissen wir, dass unser Angebot sehr eloquent ist. Entscheidend für den zukünftigen Erfolg wird sein, ob die Angebote stimmen und wir den gut 5000 Vereinsspielern in der Rhein-Main-Taunus Region einen individuellen Nutzen mit dem breitgefächerten Angebot bringen, den emsig tätigen Vereinen mehr Mitglieder bescheren und unser Bad Sodener Ehrenmitglied und Partner, Weltmeister Vishy Anand, seinen Titel in Sofia verteidigen kann.

MR: Apropos WM, unter anderem wird im CTTC auch eine Live-Kommentierung der bald startenden Schachweltmeisterschaft mit GM Klaus Bischoff stattfinden. Sie selbst werden dieser nicht beiwohnen können, da Sie als Mitglied des Teams rund um Weltmeister Viswanathan Anand selbst in Sofia sein werden. Können Sie uns sagen, was genau Ihre Aufgaben beim Projekt "Titelverteidigung" waren und sind?

HWS: Ich mache eigentlich nicht viel, ich bin einfach nur da, wenn es gilt. Anand hat ein exzellentes Team um sich geschart und jeder Einzelne ist hoch motiviert und weiß genau, was zu tun ist. Das fängt bei seiner Frau Aruna an und hört bei mir auf. Wer jetzt das kleine oder große Rädchen ist, spielt keine Rolle, Hauptsache ist, dass sie wie ein Schweizer Uhrwerk ineinander greifen.

Zwei wichtige Rädchen im WM-Uhrwerk: Aruna Anand und Hans-Walter Schmitt

Im Chess Tigers Training Center in Bad Soden hoffe ich, dass die Liebhaber des königlichen Spiels voll auf Ihre Kosten kommen, wenn der beste Kommentator der deutschen Schachszene, Klaus Bischoff und der fachliche Leiter Dr. Erik Zude das Geschehen in Sofia live kommentieren und im stilvollen Ambiente ihr Fachwissen zum Besten geben.
Natürlich wird die Chess Tigers on Tour Crew authentische und zeitnahe Live-Kommentare dazuwürzen und ihre Sicht der Dinge ergänzend über Skype aus Sofia mitliefern.

MR: Sie nach dem Ausgang des WM-Matches zu fragen, erübrigt sich, doch verraten Sie uns, welchen Eindruck der amtierende Weltmeister aktuell auf Sie macht und warum er Ihrer Meinung nach Veselin Topalov schlagen wird!

HWS: Es gibt keine Garantien für einen Sieg. Jeder der Protagonisten hat sich sicher sehr gut vorbereitet, wird sicher versuchen in die bestmögliche Form bis zum 23. April zu kommen und dann wird die Sache am Schachtisch im Military Club Sofia geklärt. Meiner Ansicht nach ist der Ausgang völlig offen, aber ich bin sicher, dass Vishy alles daran setzen wird, die Bonner Geschichtsschreibung zu wiederholen. Mit einer Matchscore von -2 gegen Vladimir Kramnik in langsamen Partien ist er angereist und mit dem Ausgleich derselben ist er später abgereist.

MR: Den größten Vorteil verspricht sich der Herausforderer nicht von der Tatsache, dass er auf heimischen Boden spielen darf, er führt vielmehr den Altersunterschied von fünf Jahren an. Kann dieser tatsächlich entscheidend sein?

HWS: Hier gilt die alte Fußballregel im Grunde genauso auch im Schach: "Es gibt keine alten oder junge Spieler, es gibt nur gute und weniger gute, bei gleichguten muss der Tiebreak her".

Vishy Anand und Hans-Walter Schmitt und im Hintergrund Ehefrau Cornelia Schmitt

MR: Topalovs Manager Silvio Danailov hat kürzlich angekündigt, sein Schützling würde Anand dazu zwingen, unter den Sofia-Regeln zu spielen und folglich während der Partien nicht mit ihm kommunizieren und nicht auf Remisangebote reagieren. Das scheint den Weltmeister aber nicht sonderlich zu beeindrucken, oder?

HWS: Silvio Danailov ist ein behänder Jongleur mit allen möglichen Vorteilsnahmen in allen Situationen für seinen Mandanten, aber es scheint ihm entgangen zu sein, dass es in Zweikämpfen überhaupt keinen richtigen Nutzen bringt, die Hauptstadtregel der Bulgaren zu vereinbaren, weil doch jeder ein - "berechtigtes" oder "unberechtigtes" - Remisangebot still mit dem Weiterspielen der Partie ablehnen kann. Also hat sein Schützling Veselin es selbst in der Hand, einfach, wie es in traditionellen WM-Kämpfen üblich ist, nach seinem Gusto zu handeln.

Der amtierende Weltmeister Viswanathan Anand wird ihm niemals ein Angstremis anbieten, sondern bestimmt eine vernünftige und großzügige Auslegung des edlen Spiels mit allen seinen Finessen vorleben, wobei ein Remisangebot auch immer unter taktischen Gesichtspunkten zu betrachten ist. Soweit ich mich erinnern kann, hat Anand bei seiner Titelverteidigung in Bonn 2008 seinem Gegner Vladimir Kramnik keinmal ein Remis angeboten. Hoffentlich kommt nicht noch einer auf die Idee, wie es oft in unserem ehrwürdigen alten Schachklub von einem graumelierten Herrn des Öfteren zu hören war, wenn einer gegen ihn aufgeben wollte: "Abgelehnt, jetzt wird gespielt, bist Du matt bist!"

MR: Ein Wort noch zur diesjährigen Präsidentenwahl bei der FIDE. Neben dem amtierenden Kirsan Ilyumzhinov hat der zwölfte Schachweltmeister Anatoly Karpov seine Kandidatur angekündigt und dabei bereits großen Zuspruch von vielen europäischen Verbänden - beispielsweise auch vom Deutschen Schachbund - erhalten. Wie stehen Sie dazu?

HWS: Es ist für mich keine Überraschung, dass sich der 12. Weltmeister der Schachgeschichte für dieses Amt bewirbt, hatte er doch schon Mitte/Ende der neunziger Jahre damit geliebäugelt. Zurzeit könnte er gute Chancen haben, das unstete Dasein der FIDE mit neuen Ideen und Taten oder auch "Back to the roots" zu beenden. Sein Beziehungsgeflecht in der Schachwelt und deren Organisationen ist sicher sehr gut, aber ob es reicht in Russlands politischem Umfeld genug Einfluss und Stimmen gegen Ilyumzhinovs Geld zu gewinnen, ist eher fraglich. Obwohl ihm sein neuer bester Freund Garry Kasparov die uneingeschränkte Unterstützung zugesagt hat.

Vielen Dank für das Gespräch!

Mike Rosa

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