20. November 2014
Gewohnt kühl blieb Magnus Carlsen nach seiner ersten Niederlage in der vergangenen Woche in Sotschi. Auf der Pressekonferenz vernahm die Schachwelt seine Worte:
„In so einem Match solltest du auf Siege oder Niederlagen nicht überreagieren, das Duell geht weiter, und ich gebe mein Bestes in den nächsten Partien.“
Das smarte Pokerface des Weltmeisters ist für manche Beobachter der Szene fast so entnervend wie einst der rumänische Weltklassetorwart Cornel Penu im Handball WM-Endspiel 1974 in Berlin gegen die DDR mit seinem Dauerlächeln den Kontrahenten den Nerv zog. Im WM-Finale sprang Weltklassehandballer Wolfgang Lakenmacher in den Kreis mit dem Ball in der Hand. Der rumänische Torwart der Extraklasse lächelte. Penu lächelte eigentlich immer das ganze Spiel. Sein Markenzeichen waren sein entnervendes Lächeln und der Oberlippenbart. Extrem gut halten konnte er auch. Wahnsinn! Diese Paraden. Der Ball verließ nicht die Hand von Wolfgang Lakenmacher. Er resignierte vor Penu. Rumänien gewann das Endspiel in Berlin 14:12 gegen die DDR.
Apropos Resignation. Den Eindruck konnten viele Schachfreunde 2013 auch von Vishy Anand in Chennai gewinnen. Seine Körpersprache und Ausstrahlung erinnerte mich an jene Szene mit Lakenmacher, die ich einst als 11-Jähriger in Berlin selbst erlebte. Was macht man gegen so ein Pokerface? Nun, andererseits hatte der Herausforderer in Sotschi Carlsen bisher vor erheblich mehr Probleme gestellt wie vor einem Jahr in Chennai.
Auf dem Sportportal Spox gab es ein lesenswertes Interview mit den Großmeistern Jan Gustafsson und Ilja Zaragatski. Dabei gab es auch die Frage in puncto Entwicklungspotenzial von Herausforderer Viswanathan Anand.
"Entwickelt sich auch Anand trotz seines deutlich höheren Alters noch weiter?“
Der 35-jährige Jan Gustafsson, Teilnehmer der erfolgreichen deutschen Schachnationalmannschaft beim grandiosen Europameisterschaftssieg 2011, legt sich fest:
"Seine Spielstärke hat sich nicht verändert, das ist in seinem Alter auch fast unmöglich. Die Einstellung und Strategie für das Finale sind dafür deutlich besser als im letzten Jahr. Er gestaltet das Spiel offener und hat mit Weiß einen gefährlichen Aufschlag vorzuweisen. Er hat aus 2013, als er keine Partie gegen Carlsen gewinnen konnte, gelernt und seine Strategie entsprechend angepasst.“
Der Humor kam dieser Tage in der Internet-Berichterstattung rund um das WM-Match in Sotschi auch nicht zu kurz, weiß ChessBase zu berichten. Inklusive der vom Satireportal Postillion am Montag verbreiteten Meldung der Synapsenzerrung bei Magnus Carlsen. Kein Grund zur Panik für die Fans des Schachweltmeisters. Der norwegische Großmeister ist kerngesund.
Heute also die 9. Partie. Magnus Carlsen mit den weißen Figuren und dem damit verbundenen Anzugsvorteil. Wie schwer das Unterfangen ist gegen den eröffnenden Carlsen zu spielen, zeigt ein Blick auf die Statistik. In den bisherigen vier Partien von Sotschi mit den schwarzen Figuren musste Anand zwei Niederlagen gegen den Weltmeister einstecken und kam zu 2 Remis. Im vergangenen Jahr beim WM-Kampf in Chennai kam Viswanathan Anand in 5 Partien mit Schwarz auf 4 Remis und erlitt eine Niederlage. Das wertet im Nachgang auch den Sieg mit Schwarz von Deutschlands Schachgroßmeister Arkadij Naiditsch gegen Magnus Carlsen bei der Schacholympiade in Tromsø weiter auf. Johannes Fischer schrieb seinerzeit am 9. August 2014 auf ChessBase:
"Es war eine Sensation. In der siebten Runde der Schacholympiade erlitt Weltmeister Magnus Carlsen seine erste Niederlage. Er verlor mit Weiß eine zunächst vorteilhafte Stellung gegen Arkadij Naiditsch. Das sicherte Deutschland einen 2,5:1,5-Sieg gegen Norwegen.“
Doch jetzt zum aktuellen Geschehen am Donnerstag in Sotschi. Der Skandinavier hatte in den WM-Duellen mit dem Kontrahenten aus Indien bisher in neun Partien Weiß gehabt. Die ersten beiden Spiele mit Anzugsvorteil in Chennai eröffnete Carlsen mit 1.Sf3. Danach folgte ein 1.c4. In den darauffolgenden sechs Begegnungen mit Weiß gegen Anand in Indien und jetzt in Russland eröffnete der smarte Mozart des Schachs immer mit 1.e4. Was würde die Schachwelt vom Weltmeister in puncto Eröffnungsrepertoire heute geboten bekommen? Magnus Carlsen eröffnete nach dem 4. Ruhetag die 9. Partie mit 1.e4. Viswanathan Anand rief die Spanische Eröffnung als Antwort auf.
Kommentator Bernd Schroller merkte auf dem Live-Ticker bei Spiegel-Online an:
"Wieder der Königsbauer. Und wieder weicht Anand dem Sizilianer aus. Erleben wir die nächste Theorieschlacht in der 'Berliner Mauer'?“
Schlacht ist gut. Wer im Internet die Partie verfolgte und zwischendurch nach 10 Zügen noch einen Kaffee trinken gehen wollte oder ein paar Telefongespräche abhandelte, der war dann vielleicht überrascht beim erneuten Blick auf den Bildschirm. Was Schlacht? Heute dann wohl eher nicht. Nachdem Carlsen in der Eröffnung etwas überrascht wurde, strebte er das Dauerschach an. Nach dem 20. Zug vom Mann aus Norwegen gab es den obligatorischen Händedruck. Remis.
Zwischenstand nach der 9. Partie. 5:4 für Magnus Carlsen. Das dritte Remis hintereinander in der russischen Universitätsstadt. Ein halber ganzer Punkt für den Weltmeister. Er schiebt sich mit jeder Punkteteilung mehr an die Titelverteidigung heran. Jetzt fehlen noch 1,5 Punkte.
Zur Erinnerung. In Chennai lag Viswananthan Anand nach der 9. Partie mit 3:6 zurück.
Bernd Schroller merkt zur Pressekonferenz in Sotschi zur 9. Partie bei Spiegel-Online an:
"Auf der Pressekonferenz will sich Carlsen nicht zu tief in die Karten schauen lassen. Er weicht der Frage aus, ab welchem Zug er aus der Vorbereitung gerissen wurde. Ihm fehlte aber vor dem Schlagen auf f7 eine ernsthafte Idee für das Spiel. Und so war das Remis für in in Ordnung.“
Georgios Souleidis fast auf dem Live-Ticker von sportal das Geschehen bündig zusammen:
"Carlsen wurde in der Eröffnung kalt erwischt und forcierte das Remis durch Dauerschach. Eine für ihn ungewöhnliche Vorgehensweise, aber das ist hier die Weltmeisterschaft. Er liegt weiterhin mit einem Punkt vorne und möchte kein unnötiges Risiko eingehen.
Im vergangenen Jahr bei der Schach-WM bestückte Bernd Schroller ja bei sportal den Live-Ticker und er wurde 1:1 so auch bei Spiegel-Online gebracht. Er hatte einen prima Job gemacht. In diesem Jahr gibt es Arbeitsteilung. Sportal hat mit Georgios Souleidis einen neuen Kommentator am Start.
Zum Abschluss noch eine Stimme zur heutigen 9. Partie von Schachexperte André Schulz auf ChessBase.
"Nach dem Berliner Marathon in der 7. Partie gab es heute bei der Schach-WM die 'Berliner Kurzstrecke'. Nach nur 20 Zügen wurde die 9. Partie Remis nach dreifacher Stellungswiederholung. Carlsen wich zwar als Erster von der 9. Partie ab, aber Anand zeigte sich danach bestens vorbereitet und Carlsen fand danach offenbar keinen Weg auf Vorteil zu spielen.
Am morgigen Freitag in der 10. Partie führt Viswanathan Anand die weißen Figuren. Hat er noch etwas im Köcher?
Bleiben Sie mir gewogen.
Michael Wiemer
(Anm. Red.: Zum Redaktionsschluß dieses Artikels gab es noch keine Bilder aus Runde 9. Die hier gezeigten Bilder stammen aus Runde 8.)
Der 51-jährige Michael Wiemer erlernte einst in Leipzig bei MoGoNo unter Anleitung von Trainer Paul Gaffron die Feinheiten des königlichen Spiels. Mit 14 Jahren spielte er seine ersten internationalen Fernschachpartien. Schach ist für ihn immer wieder faszinierend. Seine private Schachbibliothek ist ein beredtes Zeichen davon.
Michael Wiemers Lieblingsspieler in der Schachgeschichte ist Bobby Fischer.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 19138