21. November 2014
Der Hitchcock-Thriller von Sotschi ging am Freitag in die nächste Runde. Die 10. Partie stand auf dem Programm. Der Zwischenstand von 5:4 für Carlsen sorgte für knisternde Spannung. Der Herausforderer Anand musste eigentlich vehement auf Sieg spielen. Ein schnelles Remis wie am Donnerstag in der 9. Partie oder eine lang erkämpfte Punkteteilung wie in der 7. Partie würde den Titelverteidiger eher in Richtung der ersehnten 6,5 Punkte zum Gewinn der Weltmeisterschaft bringen. Konnte der Schachheld aus Indien heute seinen Anzugsvorteil nutzen?
Ulrich Stock hatte in der Analyse des schnellen Remis von gestern vor der heutigen 10. Partie auf Zeit-Online auch den Aspekt der größeren Erfahrung vom indischen Herausforderer ins Spiel gebracht:
"Dieses Remis hat den Herausforderer keine Mühe gekostet. Allerdings sind jetzt nur noch drei Partien zu spielen; eine davon muss er gewinnen, um im Rennen zu bleiben und das Stechen zu erreichen. Anand, 44, hat weit mehr Zweikämpfe ausgefochten als der um 21 Jahre jüngere Carlsen. Diese Erfahrung wird jetzt wichtig. Plötzlich könnte auch das Alter eine andere Rolle spielen als erwartet.“
Es gab eine Grünfeld-Indische Verteidigung. Viswanathan Anand suchte taktische Verwicklungen. Schachkommentator Bernd Schroller merkt auf dem Live-Ticker von Spiegel-Online nach 19. Sg5 an:
"Sollte Anand heute (oder auch in den Runden elf und zwölf) wirklich gewinnen, dann droht uns eine Verlängerung. Anand musste 2012 gegen Boris Gelfand sogar schon einmal ins Tiebreak, dass er gegen den Israeli gewann. Ich finde es ja eines WM-Kampfes unwürdig, dass die Krone am Ende in Schnellpartien und möglicherweise sogar in Blitzpartien vergeben wird. Sollte es wirklich dazu kommen, werde ich ganz sicher darüber auch noch einmal etwas länger öffentlich nachdenken.“
Soweit würde ich nicht gehen wollen. Bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien benötigte die deutsche Fußballnationalmannschaft zwei Verlängerungen gegen Algerien und Argentinien. Vizeweltmeister Argentinien erreichte den Einzug ins Endspiel durch ein gewonnenes Elfmeterschießen gegen die Niederlande im Halbfinale. Reglement ist Reglement.
Schachexperte André Schulz leitet seinen Bericht über die 10. Partie am Freitag auf ChessBase so ein:
"In der heutigen 10. Partie griff Carlsen mit Schwarz wieder auf die Grünfeld-Verteidigung zurück. Anand strebte mit der Russischen Variante scharfes und kompliziertes Spiel an. Auch nach dem Damentausch blieb die Position sehr dynamisch und zweischneidig. Anand hatte dank eines Freibauern im Zentrum eine leichte Initiative, doch nach dem Übergang ins Doppelturmendspiel war die Partie völlig ausgeglichen und endete im 32. Zug remis.“
Auf Spiegel-Online merkt Bernd Schroller nach Partieende mit Blick auf den ehemaligen Weltmeister aus Indien an:
"Heute hat Anand wohl eine große Chancen liegen gelassen, den Kampf um die WM-Krone wieder völlig offen zu gestalten. Ihm ist es nach dem Tausch der Damen aber nicht gelungen, die Stellung weiter taktisch zu verschärfen. Nachdem Carlsen die E-Linie besetzt hatte, war die Stellung endgültig im Ausgleich.“
Ein kleiner Blick hinüber in unser Nachbarland Schweiz. Die Neue Zürcher Zeitung verweist auf die Zeitkomponente, die Anand davonzulaufen scheint.
"In der 10. Partie der Schach-Weltmeisterschaft in Sotschi hat der norwegische Weltmeister Magnus Carlsen wie im ersten Spiel auf die Grünfeld-Indische Verteidigung zurückgegriffen und damit ein Remis erreicht. Der Inder Viswanathan Anand, der mit einem Punkt im Rückstand liegt und dem allmählich die Zeit ausläuft, wählte das komplexe System mit 5. Db3.“
Selbstverständlich ist die 10. Partie der Schachweltmeisterschaft 2014 auch bereits bei Wikipedia eingepflegt.
Am Sonntag geht es dann in die 11. Partie. Dann wieder mit dem Anzugsvorteil von Weltmeister Magnus Carlsen. Das Psychoduell mit dem Damoklesschwert des knappen Gesamtstands von 5,5:4,5 für den Titelverteidiger bedeutet: Ein Sieg macht den Mozart des Schachs zum erneuten Schachweltmeister. Ein Remis vom Tiger von Madras würde dem Herausforderer die Chance geben, in dem 12. Spiel vehement anzugreifen und alles auf ein dramaturgisches Finish zu setzen. Den Spannungsbogen hätte Alfred Hitchcock nicht besser in Szene setzen können.
Bleiben Sie mir gewogen.
Michael Wiemer
(Anm. Red.: Zum Redaktionsschluß dieses Artikels gab es noch keine Bilder aus Runde 10. Die hier gezeigten Bilder stammen aus Runde 9.)
Der 51-jährige Michael Wiemer erlernte einst in Leipzig bei MoGoNo unter Anleitung von Trainer Paul Gaffron die Feinheiten des königlichen Spiels. Mit 14 Jahren spielte er seine ersten internationalen Fernschachpartien. Schach ist für ihn immer wieder faszinierend. Seine private Schachbibliothek ist ein beredtes Zeichen davon.
Michael Wiemers Lieblingsspieler in der Schachgeschichte ist Bobby Fischer.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 19147