25. November 2013
Das wäre doch schön gewesen – Magnus Carlsen ist der neue Meister der Welt, und sitzt dann gleich mit am Brett bei der Mannschafts-WM im türkischen Antalya. Allein, daraus wird leider nichts, denn das Schachland Norwegen hat sich ja gar nicht qualifiziert für das Turnier. Nur die besten 10 Teams der letzten beiden Jahre dürfen überhaupt teilnehmen, am Dienstag geht es los – und Deutschland ist dabei! Die fünf Gesandten des Deutschen Schachbundes sind als Europameister des Jahres 2011 spielberechtigt. Dieser Titel ist zwar schon zwei Jahre alt, und so richtig amtierend ist unsere Nationalmannschaft auch nicht mehr (vor allem nach dem 0,5:3,5 gegen die Türkei vor einigen Tagen), doch es ist nun einmal so – die Qualifikation kann uns keiner mehr nehmen!
Nach der EM in Warschau geht es also schon wieder weiter – am Wochenende erst spielten Arkadij Naiditsch, Georg Meier, David Baramidze und Daniel Fridman noch ein bisschen in der Bundesliga mit, und an diesem Montag schon sitzen sie mit Igor Khenkin und den beiden Trainern Uwe Bönsch und Liviu-Dieter Nisipeanu im Flieger in den sonnigen Süden. „Immer unter Strom, immer unterwegs, und überall zu spät“ heißt es bei Element of Crime – und diese Beschreibung von Hektik und Fülle trifft auf die deutschen Spitzenspieler zur Zeit wohl allemal zu (bis auf die Verspätung natürlich). Viel Zeit zum Sonnenbaden bleibt in der Türkei vermutlich nicht, auch wenn es verlockend sein mag, denn als Vorbereitung auf die enorm stark besetzte Mannschafts-Weltmeisterschaft werden die Profis vermutlich lieber in den schnöden Variantenkoffer blicken als in die Sonne zu blinzeln – schade zwar, aber so ist es wohl, das Profi-Leben.
Deutschland wird im Reigen der Großen ungefähr an Platz 8 gesetzt sein – eigentlich ganz schön, finde ich, denn das ist ja immerhin die achtbeste Mannschaft der Welt! Sehen wir uns aber mal an, wer alles so am Start ist in Antalya:
Russland: Es wird viele überraschen, doch Russland ist dabei. Das kleine Land in Europas Osten hat bei der letzten Olympiade überrascht und gewann den zweiten Platz hinter → Armenien – ein schöner Achtungserfolg für die junge Schachnation, in dem die Regeln unseres Spiel ja erst seit knapp drei Jahren bekannt sind (Niclas Huschenbeth ließ sie im Hotelzimmer liegen, als er am Moskauer Aeroflot-Open teilnahm). Dass das Team aber noch nicht gefestigt ist, zeigte unter anderem das 1;5 : 2,5 gegen die → Türkei bei der EM in Warschau. Es wird daher sicherlich hilfreich sein, dass sich die russische Mannschaft für die WM mit dem hierzulande noch unbekannten Wladimir Kramnik verstärken konnte. Ist Russland damit mehr als ein Außenseiter-Tip? Wir sind gespannt.
Ukraine: Wo Russland ist, darf auch die Ukraine nicht fehlen. Die beiden Bruderstaaten eint eine langjährige innige Beziehung, und nichts kann sie trennen in ihrem Kampf für eine bessere, sozialistische … aber Moment! Das war zwar früher einmal so, aber diese Zeiten sind lange vorbei. Heute ist fast schon das Gegenteil wahr: die Ukraine, selber nicht sehr freundlich mit der politischen Opposition, wird vom offiziellen Russland immer noch als Satellit des alten Reiches angesehen, und sobald das jemand in der Ukraine einmal anders sieht, drehen die Russen dem Land das Gas ab. Bruderstaat adé heißt es also am Schwarzen Meer, und auch der Wechsel von Super-GM Karjakin von der ukrainischen zur russischen Föderation hat die Stimmung insgesamt sicher nicht verbessert. Immerhin ist der großartige Iwantschuk noch da, und in Antalya mit im Team.
Armenien: Armenien! Alle Armenier sind starke Schachspieler, und die besten von ihnen sind bei der WM wieder mit dabei sein. Die Mutter von Weltmeister Garri Kasparow stammt aus Armenien, und ebenso Tigran Petrosjan, der König der Verteidigung. Das erdölreiche Land hat es nicht leicht, insgesamt, denn alle wollen ständig Einfluss nehmen, die → Russen, → Aserbaidschaner (alte Antipathien), Amerikaner (→ Amerika), und wer weiß, wer sonst noch alles. Schön ist es da, wenn man sich nur aufs Schachspielen zu konzentrieren braucht – und das kann dieses → armenische → Team besonders → gut. Ihr Top-Mann ist Levon Aronjan, und der ist nur einer von fünf starken Spielern am Brett. Ob es aber für eine Titelverteidigung reichen wird?
Ägypten: Schön, dass Ägypten mit dabei ist – so ist (pardon) das deutsche Team nicht der einzige Exot in diesem Turnier der Supermannschaften! Doch Exoten sind immer irgendwie ja auch sympathisch, sie geben dem Ganzen einen freundlichen Rahmen, und wenn sie mal verlieren, findet es auch keiner so richtig schlimm. Alles gut also? In Ägypten wurde das Schachspiel zwar nicht erfunden (ebensowenig wie in → Deutschland), doch wahrscheinlich war es irgendwo ganz in der Nähe. Dass die Ägypter nach ihrer steckengebliebenen Revolution nun bei der WM mit dabei sind, liegt daran, dass sie sich als Africa Qualifier den Platz ehrenvoll erobert haben. Mein Herz ist mit den Ägyptern – mögen sie viele Punkte erobern! Erst einmal starten sie aber als gefühlte Nummer 10. der Setzliste.
Nederland: Da sind sie wieder, die Holländer, und in Antalya ebenso wie die → Ukraine und → Russland durch ihr hervorragendes Ergebnis bei der letzten Schacholympiade mit im Rennen. Ob die Oranje ganz euphorisch sein werden vor dieser WM ist fraglich, denn ganz so wie Duitsland war ihr Abschneiden bei den Europameisterschaften eher solide als voortreffelijk. Anders als in Warschau aber ist Loek van Wely nun mit am Start, und das ist schon eine Verstärkung. Hup hup, wir gucken uns das mal an.
Türkei: Tjaha, Türkei. Eigentlich sind sie ja nur als Gastgeber qualifiziert, doch das muss ja nicht heißen, dass sie kein gutes Team haben. Die beiden Spitzenbretter Ipatov und Solak haben schon bei der EM bestens gepunktet, der Sieg gegen → Russland und das (einmal sei es noch erwähnt) recht hohe 3,5:0,5 gegen Deutschland waren mehr als ein Ausrufezeichen. Nun muss man sehen, denn als Gastgeber ist alles anders, der Druck ist größer, und zumindest die Deutschen sind schon vorgewarnt und werden auf die gleichen Tricks (wahrscheinlich) nicht noch einmal reinfallen. Darum diesmal: Almanya – Türkiye 3:1 – es tut mir leid, liebe Türken! Wann es allerdings zu dieser wichtigen Begegnung kommt, war am Samstag abend noch nicht ganz klar. Laut Homepage steht die Auslosung noch aus (Dosyalar turnuva esnasinda güncellenecektir).
China: Bei der EM in Warschau haben sie in letzter Minute abgesagt, doch jetzt in Antalya wird man mit ihnen rechnen müssen. Seit Jan-Hein Donner 1978 offenbar als erster Großmeister gegen einen chinesischen Spieler verlor, hat das Reich der Mitte enorm nachgelegt, absolvierte viele fleißige Trainingseinheiten und klopft nun an die Tür zur Weltspitze. Zwar sagen mir nicht alle Spieler etwas – Li Chao, Ding Liren, Wang Yue, Bu Xiangzhi und Yu Yangyi sind dabei, doch umso gefährlicher wirkt das Team dadurch.
USA: Thanksgiving ist beendet, die Finanzkrise erst einmal auch, und da können sich die Amerikaner erst einmal wieder in Ruhe dem Schachspielen zuwenden. Die USA gewannen das Turnier das letzte Mal 1993, und das ist ja eigentlich auch schon ein bisschen her. In diesem Jahr kommen sie nicht als Favoriten, doch die Aufstellung ist sehr manierlich (unter anderem mit Gata Kamsky, Hikaru Nakamura, und Ray Robson, der sogar ein bisschen so aussieht wie Bobby Fischer).
Frankreich: Frankreich! Frankreich ist leider nicht mit dabei.
Österreich! Österreich ist leider auch nicht dabei.
Deutschland: Ohne Titel fahr´n wir zur WM, und eigentlich kann die Reise nach Antalya nach den kühlen Tagen von Warschau nur aufbauend sein. Uwe Bönsch hat bestimmt noch gute Erinnerungen an die letzte EM in Griechenland, die ja ebenfalls ganz in der Nähe des Mittelmeeres stattfand. Ob der Bundestrainer seinen Spielern diesmal türkischen Tee kochen wird? Ganz egal, wichtig ist die Stimmung, und da kann es helfen, dass der Druck auf Team Germany in der Türkei nicht sehr hoch sein wird. Geht's raus und setzt's Matt, würde der Kaiser sagen, und so soll man es vielleicht auch halten. Neun Runden gegen spannende Gegner, Kramnik, Aronian, Nakamura, wann sieht man die schon mal so ganz aus der Nähe, und womöglich sogar am eigenen Brett? Wir wünschen alles Gute für das Turnier, viel Spaß am Spiel, und gutes Gelingen.
Aserbaidschan: Wow, ein starkes Team, und trainiert vom FIDE-Weltmeister und russischen Urgestein Alexander Chalifman. Aserbaidschan war eigentlich gar nicht so richtig qualifiziert, denn dafür gibt es ja Regeln (irgendwo), doch da hilft es natürlich, dass die große Mutter FIDE noch eine Wildcard vergeben durfte für dieses Turnier. Und wer hat gerade frisch die EM in Warschau gewonnen? Eben – Aserbaidschan. Ein würdiger 10. Teilnehmer war damit schnell gefunden.
Es ist wie immer schwer, für die Weltmeisterschaften ein Ergebnis vorherzusagen. Ob Deutschland eine Chance haben wird und gewinnt? Da habe ich es lieber mit meinem Freund, dem alten Mephisto III – Computer, gehalten, und spielte mit ihm die neun Runden von Antalya im Blitzmodus durch. Das hat schon bei der EM in Warschau ganz gut geklappt – Mephistos Prognose lautete dort „Frankreich“, und so ist es ja auch fast gekommen. Nun, in Antalya sieht die Sache anders aus – CHINA soll es machen, sagt Mephisto, und wer sind wir denn, dass wir dem widersprechen würden?
Morgen geht es los. Viel Spaß mit dem Turnier, Daumen drücken für unsere Jungens, und - wir bleiben dran!
PS Nach Redaktionsschluss wurde bekannt, dass Uwe Bönsch aus familiären Gründen nicht zur WM nach Antalya reisen kann. Statt seiner wird der russische GM Konstantin Sakajew mitfahren.
Olaf Steffens
Olaf Steffens ist FIDE-Meister, wohnt in Bremen und spielt dort für den SV Werder in der Zweiten Bundesliga. Obwohl das Schachspiel eigentlich viel zu schwierig für ihn ist, versucht er es immer wieder und schreibt darüber zusammen mit anderen auf www.schach-welt.de.
Während der Weltmeisterschaft in Antalya schreibt er für den Deutschen Schachbund.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 9275