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Um die Ehre der Ratte … Am (Thai-)Schachbrett in Zeiten der Corona-Pandemie ...

5. Juni 2020

Momentan regieren uns kosmische Kräfte unter Ägide der Ratte, nach dem chinesischen Horoskop. Eine Erkenntnis, die im aktuellen Kontext der Corona-Pandemie, deren erstes Aufflackern im Dezember 2019 aus dem chinesischen Wuhan berichtet worden ist, nicht ernsthaft für gute Laune sorgt. Zumindest in der westlichen Hemisphäre leidet die Ratte unter einem denkbar miesen Image; das ist geschuldet einer kollektiven Erinnerung an die Pest, die von 1346 bis 1353 auf dem Alten Kontinent wütete und rund 25 Millionen Opfer forderte, das war ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas. Der Schwarze Tod hatte seine Schreckensreise in Zentralasien begonnen und war von Rattenflöhen verbreitet worden.

Resultat: die verheerendste Seuche der Weltgeschichte. Und daher wäre es allen Aficionados der großartigen Kultur aus dem Reich der Mitte ganz klar lieber gewesen, der Büffel - laut Kalender erst ab dem 12. Februar 2021 das astrologische Leittier der Folgesaison - hätte sich zwischendurch bereits auf die Hinterbeine gestellt und der Ratte robust bedeutet, sie solle sich vorsorglich in eines ihrer Löcher trollen und nicht bis Ende 2020 rund um den Globus die Laune vermiesen. Eine putzige, wenngleich natürlich völlig irreale Vorstellung, zumal zwischen Beijing und Hongkong niemand ernsthaft nachvollziehen kann, welche negativen Reflexe der suboptimal beleumundete Nager bei historisch bewanderten Langnasen auslöst.

In China nämlich genießt das besagte Tierkreiszeichen einen exzellenten Ruf. Menschen, die im Jahr der Ratte geboren werden, sollen ehrenhaft und ehrlich sein, und gleichzeitig werden die Betreffenden im Freundeskreis als generös in finanziellen Fragen geschätzt. Ein verblüffend positives Profil, und dazu passt kongenial, dass Ratten im Tierreich als High Performer gelten. Sie sind sozial und intelligent, und talentierte Exemplare der Gambia-Riesenratte werden mittlerweile sogar für die Minenräumung in Afrika trainiert.

Außerdem hat der Sinstorfer Schachlehrer Jürgen Woscidlo - weit über die Grenzen Norddeutschland bekannt als "Mister Multi-Kulti-Chess", da der hauptberufliche Pflegedienstleister in seinen Unterrichtseinheiten neben der Standardausgabe des Königlichen Spiels auch Exotika von Japans Shogi bis Äthiopiens Senterej diskutiert - dem Autor dieser Zeilen eine schier unglaubliche Beobachtung zum Verhalten der neugierigen und geselligen Tiere berichtet: "Ich hatte 1983 das Vergnügen, in einer Tagesstätte für Körperbehinderte ein Praktikum zu absolvieren. Der dort tätige Musiktherapeut Harald Melchior intonierte jeden Dienstag und Donnerstag in seinem Raum verschiedene Stücke von Beethoven und Mozart auf der Querflöte. Und regelmäßig stellten sich Ratten und Mäuse als Publikum ein, die still der Musik lauschten!"

In der Konsequenz ist es das Gebot der Stunde gewesen, in diesen irren Tagen und Wochen, die vielen Leuten den letzten Nerv rauben und manchen in einen raunenden Verschwörungstheoretiker verwandeln, quasi gemäß Höheren Auftrags die Ehre der Ratte zu verteidigen - bevor etwa gewissenlose Hate Speaker die idiotische Idee rausposaunen könnten, nach der Pest hätten die allgegenwärtigen Supernasen vielleicht auch etwas mit Corona zu tun (haben die natürlich nicht, Stupid!).

Umgesetzt wurde das ambitionierte Projekt mit einer augenzwinkernden Reverenz an eine ehrwürdige Tradition: Gottesurteile durch Zweikampf, denen wir wahlweise fasziniert und schockiert in der spannenden TV-Fantasy-Serie "Game of Thrones" zugeschaut haben.

Allerdings sollte das avisierte Replay eines Trial By Combat im dritten Millennium deutlich humaner, weil weniger blutrünstig ablaufen - sprich: als mentales Duell, dem sich eine autorisierte Vertrauensperson der Ratten zu stellen hätte. Und zielgerichtet eben gerade am Schachbrett: eine virtuelle Verbeugung vor der zauberhaften Göttin Caissa, in demütiger Erwartung ihres unbestechlichen Schiedsspruches.

Die Schachgöttin Caissa auf einer Briefmarke von Paraguay

Die betörende Caissa war konkurrenzlos kompetent für einen derart brisanten Ratschluss. Schließlich zählt sie, wie der italienische Humanist und Dichter Marcus Hieronymus Vida (1485-1566) in seinem lyrischen Epos "Scachia Ludus" referiert hat, zur Familie der Nymphen und ist nach griechischer und römischer Mythologie eines jener weiblichen Geistwesen, die in Bäumen, Grotten oder an stillen Wassern wohnen. Die magischen Schönheiten beschützen Flora und Fauna - und folgerichtig auch die Ratte, die ihren unverzichtbaren Part im Orchester der Natur spielt.

Was allerdings hat eine gute Fee wie Caissa mit Schach zu tun?! Während antike Quellen dazu schweigen, imaginierte Erfolgsautor Vida - sein 1527 publiziertes "Scachia Ludus" war ein Bestseller im 16. Jahrhundert - ein amouröses Szenario in transzendenter Dimension: Die aus den Wäldern Thrakiens stammende Caissa habe das Herz des Kriegsgottes Ares gebrochen. Schnöde ließ die elfengleiche Beauty den flirtwilligen Schlachtenlenker abblitzen, und der Verschmähte weinte sich bitterlich beim Co-Olympier Apollon aus. Dem unsterblichen Kollegen kam plötzlich ein Geistesblitz: Apollon kreierte Schach, als fein gestrickte Liebesgabe, die der Ares seiner spröden Angebeteten darbringen sollte.

Unzählige Generationen nach der legendären Pleite des Ares bei Caissa stieg dieser Tage nun erneut eine Partie für die Ewigkeit: Am 16. Mai 2020 wurde die angeknackste Reputation der Ratte im angesagten Hamburger Kölsch-Lokal "Rheinischer Hafen" auf den Prüfstand gestellt.

Im Rahmen dieses denkwürdigen Sonnabends galten übrigens die Regeln der thailändischen Schachversion Makruk. Warum? Der regionale Mattsport aus dem Land des Lächelns spiegelt fast deckungsgleich das Ur-Schach wider, das Chaturanga hieß und vor gut anderthalb Jahrtausenden in Indien erfunden wurde. Insbesondere die Figur der Dame fehlte im Szenario des Prototyps vom Subkontinent; der Platz der modernen Königin war nach dem Originaldesign für einen Berater mit deutlich beschränktem Aktionsradius reserviert. Abgesehen von ergänzenden Nachjustierungen hat Thailands Makruk bis heute am ursprünglichen Konzept festgehalten und darf zu Recht gewissermaßen als Replik des sagenumwobenen Game of Games aus der Werkstatt des Apollon verstanden werden.

Die Partei, die jetzt der Ratte symbolisch die Hölle heiß machen sollte im Corona-Mai 2020, führte im "Rheinischen Hafen" an Hamburgs Stadthausbrücke kompetent und frohgemut die weißen (sic!) Truppen (Attention, oft wird die Farbe Weiß mit dem Begriff der Unschuld assoziiert ...). Leitwolf der Unbefleckten war Meister Weeraphon Junrasatpanich, in der örtlichen Community von Expatriates aus Südostasien als Lokalmatador respektiert und gefeiert. Der Autor und Rechtsanwalt Dr. René Gralla, Mitglied des Kaders des Hamburger Vereins SCHACHELSCHWEINE, übernahm den schwierigen Part, im Auftrag der Ratte drohenden Schaden vom schwarzen Lager abzuwenden (wie das sonst auch zum Berufsverständnis eines Advokaten gehört), und augenfällig wurde die Figur des Black King gegen eine Porzellanplastik der langschwänzigen Schnüffler ausgetauscht.

Corona-gerecht maskiert am Start zum symbolträchtigen Rattenrennen in der Mini-(Thai-)-Schacharena der 64 Felder im beliebten Hamburger Kölsch-Lokal "Rheinischer Hafen": Dr. René Gralla (re.), Kadermitglied bei den Hamburger Schachelschweinen und autorisierter Spielführer der oft geschmähten Nager (eine Ratte im Miniaturformat aus dem Sortiment von "Hegrat`s Asien-Haus" in Hamburg besetzt am rechten unteren Bildrand in der Ausgangsposition vor Matchbeginn das Feld des schwarzen Monarchen) versus Weeraphon Junrasatpanich (li.) als Kommandeur der Weißen.
Mattjagd mit Thaischach "Makruk" - wer die schöne Göttin Caissa an seiner Seite weiß und ein leichtes Getränk in Händen hält, dem muss nicht bange werden (der Autor René Gralla, Mitglied des Kaders des Hamburger Vereins SCHACHELSCHWEINE, als Gelegenheits-Model für eine kultige Jägermeister.Kampagne in den 1970-er Jahren; das Foto wurde aufgenommen am 13. Dezember 1977 in einem Studio in Düsseldorf und veröffentlicht von der TV-Zeitschrift "Gong" in der Programmwoche 29.9. - 5.10.1979). Reproduktion des Bildes: Bernd-Jürgen Fischer, Hamburg 2020.

Und so konnte das epische Kräftemessen beginnen: ein zähes Ringen, das die Kontrahenten an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit brachte. In der Anfangsphase musste Schwarz heftige Schläge einstecken, brach beinahe ein. Doch die Ratte ist eine Überlebenskünstlerin, duckte sich geschmeidig weg - und tauchte plötzlich in der guten Stube der Weißen auf, plünderte die letzten Reserven. Dem Gegner blieb am Ende keine Wahl, er musste das Unvermeidliche akzeptieren … und ins Unentschieden einwilligen.

Ein versöhnliches Ergebnis für die Ewigkeit. Das eine unmissverständliche Botschaft an die Internationale der Aluhüte sendet: Die schlaue Ratte aus dem chinesischen Horoskop hat nix und nada mit den aktuellen Herausforderungen zu tun, die uns seit Beginn des Jahres 2020 bedrängen. Das ist das Diktum der unbestechlichen Caissa.

Freuen wir uns auf den weiteren Verlauf des Jahres der Ratte: Wer die charmante Caissa an seiner Seite weiß, der kann niemals scheitern!

René Gralla

// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 10416

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