12. November 2014
Wie letztes Jahr in Chennai/Madras steht es auch in diesem WM-Match zwischen Carlsen und Anand (bzw., wenn man den Titelverteidiger zuerst erwähnt, damals zwischen Anand und Carlsen) nach vier Partien und vor dem zweiten Ruhetag 2-2 unentschieden. Damals begann es allerdings zunächst mit vorsichtigem Abtasten, nun ging es direkt zur Sache - wobei die schachlichen Vorlieben sowie Stärken und Schwächen beider Spieler sofort deutlich wurden. Ich werde die Partien kurz beschreiben, detaillierte Analysen findet der Leser anderswo bzw. überall im Internet. Dass diverse Spieler live kommentieren, hatte ich im Vorbericht bereits erwähnt - noch mehr äusserten sich während und nach den Partien auf Twitter. Dazu nur eine kurze Liste - ohne Anspruch auf Vollständigkeit, leicht NL-lastig, z.T. Spieler denen ich bereits persönlich begegnet bin: Caruana, Giri, l'Ami, Radjabov, Short, Vachier-Lagrave, usw. - gelegentlich auch Kasparov, aber der twittert vor allem über Politik.
Es begann mit höflichen Kommentaren der Spieler zum Austragungsort Sotschi - bei Anand sicher ehrlich gemeint, Carlsens begleitende Körpersprache suggerierte Zahnschmerzen oder dass er gerade eine bittere Medizin geschluckt hatte. Es ist ja allgemein bekannt, dass er nicht in Sotschi spielen wollte ... . Dann gleich die Frage nach den Sekundanten. Anand nannte Sandipan, Wojtaszek und Gajewski (neu im Team, wie Wojtaszek Pole und die beiden sind offenbar gut befreundet). Da hatte ich mehr erwartet, da er in einem Interview einige Tage vor dem Match zu seinem Team gesagt hatte "there have been changes on all fronts" und quasi versprach, in der Pressekonferenz mehr zu verraten. Entweder hatte er übertrieben, oder er hat es sich zwischenzeitlich anders überlegt und einige Geheimnisse nicht verraten? Carlsen: "der Däne und der Hammer" - gemeint sind Peter Heine Nielsen und Jon Ludvig Hammer. Auch das sind vielleicht nicht alle Namen ... .
Laut Twitter-Gerüchten hilft Caruana Anand - Caruana hat das dementiert, das muss nichts heissen!? Warum würde er das machen, wenn er es macht? Vielleicht, weil er bei nächster Gelegenheit lieber zwei Partien im Kandidatenturnier gegen Carlsen spielt und danach (Wunschergebnis vorausgesetzt) mehr als zwei Partien gegen Anand als umgekehrt. Auch Aronian hilft Anand (siehe Partie 3), aber das war jedenfalls in dieser Form nicht geplant oder beabsichtigt.
Gegen Ende der Pressekonferenz noch eine Liebeserklärung von Anand an seine Frau, während Carlsen die indirekte Frage nach (s)einer Freundin nicht beantwortete: "Haben Sie einen Talisman?" "Ich bin nicht abergläubisch."
Im Rahmen der anschliessenden Eröffnungsfeier noch die Auslosung betrifft Farbverteilung: Anand begann tags darauf mit den weissen Figuren.
Anand begann mit 1.d4, Carlsen überraschte ihn (vielleicht) mit Grünfeld-Indisch worauf Anand die Nebenvariante 4.cxd5 Sxd5 5.Ld2 wählte. Einige nannten das eine Alibi-Variante, aber ungiftig ist es nicht (weiss ich auch aus eigener Grünfeld-Erfahrung auf meinem Niveau). Grünfeld-Experte Vachier-Lagrave dazu später: "viele Grünfeld-Abspiele sind zum Remis ausanalysiert, Ld2 nicht". Zunächst schien Anand besser vorbereitet, Carlsen investierte bereits 16 Minuten für das logisch-thematische 9.-Lg4 und nochmals 21 Minuten für 13.-c6. Aber dann, obwohl das ein logischer Zug war, tauchte Anand ebenfalls 23 Minuten ab. Radjabov spekulierte, dass Anand die Zugfolge durcheinander gebracht hatte, was Anand hinterher in der Pressekonferenz bestritt - hätte er es zugegeben?
Wie dem auch sei, zunächst entsprach die Stellung wohl eher Anands Stil: kompliziert und unbalanciert - was nicht unbedingt heisst, dass er _objektiv_ besser stand. Dann schien sie zum Remis zu verflachen, dann verlor Anand kurz vor der Zeitkontrolle den Faden - Svidler im Livekommentar: "Hier hat eher Weiss schlecht gespielt als Schwarz gut gespielt". Nun war Carlsen am Drücker, verpasste allerdings die Chance 42.-Te3 mit zumindest sehr guten praktischen Gewinnchancen. Nach stattdessen 42.-Te2 musste die weisse Dame kurz danach in die Ecke (44.Dh1, einziger Zug) um von da aus das gesamte Brett zu kontrollieren - bis auf die ersten beiden Reihen auf denen die schwarzen Schwerfiguren Matt drohten. Also Dauerschach und remis.
Was soll man zu dieser Partie sagen? Svidler tendierte dazu, dass die letzte Wendung in der Partie (Anand hielt eine schwierige Stellung remis) am ehesten im Gedächtnis haften bleibt. Andere, darunter Spindoktoren aus dem Carlsen-Lager, sahen das anders.
Carlsen spielte 1.e4, Anand reagierte mit der "Berliner Mauer", Carlsen sagte mit 4.d3 "Endspiel, nein danke". Eröffnungsvorteil erreichte er nicht, braucht er auch nicht, später stiftete er mit dem Turmschwenk Ta1-a3-g3 Verwirrung mit angedeutetem Königsangriff. Anand verteidigte sich sicher nicht optimal und landete in einem schlechten Schwerfigurenendspiel. Da verteidigte er sich dann kreativ, bevor er mit 34.-h5?? übel patzte und nach 35.Db7 direkt aufgeben konnte und musste. Ob die Stellung sonst zu halten war, kann man allerdings bezweifeln.
Soweit meine ganz kurze Zusammenfassung der Partie, nun der twitternde Anish Giri. Während der Partie: "Ich bezweifle, dass dieser psychologische Angriff gegen den selbstbewussten Anand funktioniert, aber die Partie kann nun unbalanciert und zweischneidig werden ...". Hinterher: "Alle die auf Fehler hinweisen (offensichtlich mit Computerhilfe), bitte beachtet Ta3!? von Magnus was eine total ausgeglichene Stellung belebt!". Aus meiner Sicht war der erste Tweet näher an der objektiven Wahrheit, und der zweite ein bisschen "annotating by the result". Ich kann nun nicht sagen, was Anand genau falsch gemacht hat - ich würde diese und viele andere Stellungen gegen Carlsen, Anand, andere GMs oder auch IMs sehr wahrscheinlich verlieren ... . Verbesserungsvorschläge waren u.a. statt 18.-Le6 (und kurz danach doch 20.-LxSf5) 18.-Df7 (vertreibt die weisse Dame von h5) oder 18.-Se6 (überdeckt g7).
Einige, u.a. Caruana auf Twitter, sagten dass die Berliner Mauer pünktlich zum 25. Jahrestag des anderen Mauerfalls niedergerissen wurde. Ich sehe das nicht so: Erstens ist 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 4.d3!? ein Anti-Berliner - 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.Lb5+ und später 1-0 ist kein Najdorf-Sizilianer, und 1.e4 e6 2.d4 d5 3.exd5 ... 1-0 kein "echter" Franzose. Zweitens bezweifle ich, dass Carlsens Partieanlage objektiv vielversprechend oder gar eine 'Widerlegung' von 3.-Sf6 ist. Aber er hat gewonnen, und zwar in seinem Stil.
Danach gab es die ersten Prognosen: das wird noch ein schlimmeres Massaker als Chennai, Anand hat absolut keine Chance gegen mighty Magnus. Dazu zitiere ich erstmals Mark Twain: "Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen" (laut anderen Quellen vom Physiker Niels Bohr).
Zeit für ein bisschen WM-Historie: Zweimal konnte Anand nach einer WM-Niederlage sofort kontern, 2010 gegen Topalov und 2012 gegen Gelfand. 2013 schaffte er selbiges nicht gegen Carlsen und verlor stattdessen gleich noch einmal, hier und heute lief es wieder wie die ersten beiden Male. Wie kam das zustande? Anand spielte wieder 1.d4, Carlsen darauf Damengambit worauf Anand mit 5.Lf4 und 7.c5!? reagierte. Ein sehr bekannter Stellungstyp, der auch beim parallelen Petrosian-Memorial mehrfach geübt wurde. Carlsen verzichtete darauf, den weissen Läufer mit -Sh5 abzutauschen und bereute das vielleicht später. Weiss opferte einen Bauern und bekam dafür schon im 14. Zug einen Freibauern auf c7. Beide folgten weiterhin einer Partie Aronian-Adams, Bilbao 2013 - Anand kannte diese (Carlsen vielleicht nicht, da er früh lange überlegte), Anand hatte im 20. Zug eine Verbesserung, danach wurde es noch ein bisschen kompliziert aber Weiss gewann recht souverän. Ein Triumph der häuslichen Vorbereitung bzw. aus schwarzer Sicht eine totale Eröffnungskatastrophe.
Wiederum zitiere ich Mark Twain: "Gerüchte zu meinem Tod sind schwer übertrieben!". Anand wurde bereits totgesagt - nicht im wörtlichen, aber im übertragenen Sinn - aber Totgesagte leben länger, jedenfalls mitunter.
Das war wohl die korrekteste, aber nicht unbedingt die spannendste Partie bisher. Interessant gleich zu Anfang: 1.e4 c5!? 2.Sf3 e6!? - ein Vorschlag des US-amerikanischen FM und Schachbloggers Dennis Monokroussos. Allerdings bezweifelt er (plausibel), dass Anand oder jemand aus seinem Team seinen Blog liest. Und selbst wenn: das war sicher keine spontane Entscheidung im laufenden Match, das hatten sie sicher in den Wochen und Monaten zuvor vorbereitet. So spielte Anand vor Jahrzehnten einigermassen regelmässig, aber danach nur sehr sporadisch - und zwei seiner letzten Partien verliefen nicht unbedingt nach Wunsch: 2006 verlor er bei der Olympiade gegen Charbonneau (wer ist Charbonneau? ein kanadischer GM), dieses Jahr spielte er in der deutschen Bundesliga ein Kurzremis gegen Bobras (wer ist Bobras?). Damals wollte er vielleicht seine Vorbereitung nicht verraten - nicht auf das WM-Match, sondern für das Kandidatenturnier (die Partie wurde im Februar gespielt), und ein Kurzremis mit Schwarz wäre gegen Carlsen durchaus OK.
Natürlich wurde es kein Kurzremis. Carlsen vermied die Hauptvarianten mit 3.g3. Danach entstand (3.-Sc6 4.Lg2 d5 5.exd5 exd5 und später 8.-cxd4) eine typische Isolani-Stellung. Mal stand Schwarz etwas besser, dann wieder Weiss, die Remisbreite war wohl nie überschritten. Es gab sicher diverse Feinheiten, aber darauf kann ich nicht im Detail eingehen. Diesmal hatte Carlsens ruhige und anti-theoretische Partieanlage nicht den gewünschten Erfolg.
In der Pressekonferenz war Anand recht gut gelaunt, im Gegensatz zu Carlsen - "ich habe furchtbar gespielt" (I played terribly). Hätte Anand irgendwo einen Fehler gemacht, dann würden Carlsens Fans wieder sagen, dass er (Magnus) brilliant gespielt habe? Anschliessend verweigerte Carlsen offenbar dem norwegischen Fernsehen ein Interview. Prognosen für den weiteren Matchverlauf sind schwierig, zumal sie die Zukunft betreffen.
Noch ein paar Worte zum Livekommentar:
Nur zu diesen beiden kann ich was sagen - da ich (an den Tagen die ich live miterleben konnte) da hängen blieb und die 'Konkurrenz' nicht mitbekommen habe. Svidler war dominant, da er eben gerne redet und selten sprachlos ist - ausserdem ist er der klar bessere Spieler, und am ersten Tag hatte er auch noch (Grünfeld wurde gespielt) 'Heimvorteil'. Sizilianisch mit -e6 spielt er auch, aber heute war ich nicht live dabei. Für mich war es ein absolutes Erlebnis, vermutlich vor allem für einigermassen fortgeschrittene Spieler geeignet (ich behaupte oder bilde mir ein, dass ich zu diesem Kreis gehöre). Guramishvili (der bereits erwähnte twitternde Giri schrieb "sehr bekannte Stimme") kam eher sporadisch zu Wort - auch Svidler muss manchmal atmen oder nachdenken, allerdings eher Ausnahme als Regel. Immerhin hat sie laut chess24 einiges gelernt, als Vorbereitung auf ihr nächstes Turnier - ein sehr stark besetztes Open in Katar. Dem Vernehmen nach bedienten andere Kommentatoren tendenziell ein weniger fortgeschrittenes Publikum.
Morgen (Donnerstag) ist Ruhetag, aber wer will kommt doch schachlich auf seine Kosten: ein stark besetztes und gut dotiertes Blitzturnier - Svidler wird nicht reden sondern Schach spielen, dabei sind u.a. auch Grischuk, Kramnik, Gelfand und Karjakin.
Thomas Richter
// Archiv: Nachrichten Thomas Richter // ID 19100
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