In Gedanken auf der Krim

Schachspielerin Zoya Schleining gewinnt für Deutschland gegen Norwegen und denkt doch an die frühere Heimat

Überraschend stark spielen die Norwegerinnen gegen die deutschen Favoritinnen, doch der Länderkampf im »nd«-Gebäude steht für viel mehr als nur Sport.

Thomas Robertsen beobachtet.

Eine halbe Ewigkeit scheint die Sensation zum Greifen nah. Hoch favorisiert ist das deutsche Team in den Länderkampf gegen die norwegische Frauennationalauswahl gestartet, aber lange sieht es so aus, als könnten die Herausforderinnen aus dem Norden gleich zum Auftakt dieses Freundschaftstreffens ein überraschendes Unentschieden schaffen. Bis sich nach vier Stunden doch die größere Routine durchsetzt und die Gastgeberinnen mit 3:1 Punkten in Führung gehen.

Die gute Stimmung im »nd«-Verlagshaus, wo sich Deutsche und Norwegerinnen in zwei Vierermannschaften noch bis zum Freitag messen, wird dadurch nicht getrübt. Denn die sportliche Seite ist nur das Eine. Mindestens genau so wichtig ist die Tatsache, dass die Schachverbände von Norwegen und Deutschland zum ersten Mal gemeinsam auftreten, um für die Schacholympiade 2014 in Tromsø zu werben.

Eine Kooperation, die auf eine Initiative des »nd« zurückgeht und gerade dieser Tage besonders symbolträchtig ist. Daran erinnert Verlagsgeschäftsführer Olaf Koppe in seiner Begrüßungsansprache: »Wir sollen nicht vergessen, dass es im letzten Jahrhundert auch dunkle Zeiten der Beziehungen zwischen Norwegen und Deutschland gegeben hat.« Deswegen könne der Beitrag, den Sport zur Völkerverständigung leiste, nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Nachdenkliche Worte, die bei einem der skandinavischen Gäste sehr persönliche Erinnerungen wecken. Thomas Robertsen aus Tromsø, der als Vorsitzender des Sportkomitees des Norwegischen Schachverbandes zusammen mit Generalsekretär Geir Nesheim seine Spielerinnen nach Berlin begleitet, denkt an einen nahen Angehörigen. Als sich die Wehrmacht in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren aus der Finnmark zurückzog, exekutierten die Deutschen eine brutale Politik der verbrannten Erde.

Damals wurde auch Robertsens Urgroßvater denunziert und in den Kellern der Besatzer gefoltert. Mit entsprechend zwiespältigen Gefühlen ist Urenkel Thomas Robertsen in das Land der früheren Feinde gereist. Aber nun, während junge Norwegerinnen und Deutsche in einem Saal gemeinsam Figuren schieben, sind die Schatten der Vergangenheit endgültig verflogen. »Das ist unglaublich bewegend«, sagt Robertsen, »Schach schafft wirklich Frieden und Freundschaft«.

nd/Ulli Winkler
Länderkampf im nd-Verlagshaus: Zoya Schleining (l.) denkt.

Vom versöhnenden Potenzial des ewigen Spiels mag Zoya Schleining, die Frontfrau des deutschen Teams, nicht einmal träumen. Die gebürtige Ukrainerin, die jetzt im nordrhein-westfälischen Mülheim wohnt, bangt um Freunde in ihrer einstigen Heimat. Sie hält Kontakt per Telefon und Skype und hofft nach dem Umsturz in Kiew und während der aktuellen Krise auf der Krim, dass »die Situation sich wieder beruhigt«, aber leider sei sie da »pessimistisch«.

Dennoch ist die 52-jährige Großmeisterin Profi durch und durch und lässt sich am Spitzenbrett von den schweren Gedanken nicht ablenken. Entschlossen nutzt Zoya Schleining ihre Chance, nachdem die 25 Jahre jüngere Gegnerin Ellisiv Reppen durch übervorsichtige Manöver die Initiative aus der Hand gibt, obwohl sie (wie auch die anderen Norwegerinnen) in der ersten Runde des Freundschaftskampfes die weißen Steine führt und folgerichtig, dem Aufschlag im Tennis vergleichbar, den Anzugsvorteil hat.

Mutig startet die Deutsche hingegen aus der Eröffnung heraus mit Schwarz einen Flankenangriff, der Reppen dermaßen schockt, dass die Osloerin beinahe den ganzen Rest der insgesamt anderthalb Stunden Bedenkzeit verbraucht, innerhalb derer von beiden Seiten jeweils 40 Züge absolviert werden müssen.

Eine Harakiri-Attacke soll das Blatt noch wenden, aber Schleining bleibt cool, nimmt gleichzeitig König und Damenfigur der Norwegerin ins Visier, das ist das Aus. Der volle Punkt geht an die Deutsche. Viel weniger klar ist die Lage indes an den übrigen Brettern. Yonne Tangelder, die Nummer vier der Norwegerinnen, kann zunächst gut mit der deutschen U-16-Meisterin Josefine Heinemann aus Magdeburg mithalten und verstolpert erst nach einem Blackout die Partie, als sie entscheidendes Material einbüßt.

Anders Ellen Øen Carlsen, Schwester des Weltmeisters Magnus Carlsen: An Brett drei knöpft sie der Deutschen Jade Schmidt einen wertvollen Bauern ab, und die Hamburgerin muss um das Remis kämpfen. Die deutsche Großmeisterin Elena Levushkina, im Team hinter Schleining gesetzt, lässt sich von Anita Grønnestad aus Bergen einen eigentlich unersetzbaren Läufer abjagen. Und verdankt es allein der Nervosität ihrer um fast 300 Elo-Ratingpunkte schwächeren Gegnerin, dass sie in quasi letzter Sekunde ein glückliches Remis rettet. Vor der zweiten Runde, dieses Mal haben die Deutschen den Aufschlag, ist also noch nichts entschieden.

René Gralla

Der Originalartikel ist am 07.03.2014 im "neuen deutschland" erschienen. Mit freundlicher Genehmigung vom "nd" übernommen.

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