21. November 2024
Mark Vlad liebt Fußball. Aber er liebt auch Schach. Wenn er gefragt wird, welchen Sport er mehr mag, dann zögert der Neunjährige aus Heidelberg kurz. Aber dann sagt er, voller Überzeugung: „Eigentlich macht Schach mehr Spaß.“ Das hängt auch damit zusammen, dass Mark eine spastischen Paraparese der Beine hat. Fußball kann er nur mit Gehhilfen spielen, seine Muskulatur ist schlicht zu schwach zum Laufen. „Mit den Gehhilfen kann ich schlecht den Ball schießen“, sagt Mark, der ein großer Fan der TSG 1899 Hoffenheim ist: „Aber beim Schach ist meine Behinderung völlig egal.“
Mark Vlad ist der heimliche Star der ersten Offenen Deutschen Einzelmeisterschaft der Schachspieler mit Behinderung, die vom kommenden Montag, 25. November (erste Runde am 26. November) bis Sonntag, 1. Dezember, in Augsburg stattfindet. Mark ist der Jüngste unter sehr vielen Erwachsenen im Spielhotel Ibis. Allein das unterstreicht schon den inklusiven Charakter des Turniers. Wobei Mark Vlad für den DSB-Referenten für Inklusion, Gert Schulz, vor allem „ein Musterbeispiel für gelungene Inklusion“ ist. Ein sportbegeistertes Kind, das im vielleicht inklusivsten Sport (Jeder kann bei jedem Turnier mitspielen, egal welches Handicap er hat) ohne Einschränkung dabei sein kann. „Im Fußball“, sagt Marks Mutter Elena Salakhyan, „hat Mark leider keine Erfolge. Im Schach aber kann er sich ausleben, tankt Selbstvertrauen - und fühlt sich gleichberechtigt.“ Kurzum: „Beim Schach spürt er: Ich bin nicht anders als andere Kinder.“
Mark Vlad spielt in der U10 der Schachfreunde Heidelberg. Am zweiten Brett habe er „schon viele wichtige Punkte für das Team geholt“, erzählt er stolz. Zuletzt, bei der Bezirksmeisterschaft, auch sechs Zähler aus sieben Partien. Im Verein ist er gut integriert. Das war von Anfang an eine Selbstverständlichkeit, sagen die Eltern des Jungen, der sich nur mit Gehhilfen und Rollator fortbewegen kann. Was übrigens auch schon ein Erfolg ist, sagt sein Vater Eduard Vlad. Anfangs gaubten die Ärzte, er werde sich nie ohne Rollstuhl fortbewegen können aufgrund seiner Muskelkrankheit.
Die spastischen Paraparese strahlt bei vielen Betroffenen oft auch auf die kognitiven Fähigkeiten aus – aber nicht bei Vlad. Die Eltern haben deshalb auch darum gekämpft, dass er keine Förderschule für Kinder mit körperlicher und geistiger Behinderung besucht - sondern eine ganz normale Grundschule. Dort hat er sehr gute Noten, vor allem in Mathematik und Sport – die Gymnasialempfehlung ist bei einem Notenschnitt von aktuell 1,3 nur noch Formsache.
Mark ist eben ein ganz besonderer Gewinnertyp. In der Schule - und im Sport. Mittlerweile, betont sein Vater im Gespräch mit Matthias Wolf vom DSB-Team Öffentlichkeitsarbeit, spielt er mit großer Freude „Fußball auf seine eigene Weise – und Schach mit großem Können und Ausdauer“. Und das, obwohl es im engeren Umfeld von Eduard und Elena, die 2002 im Rahmen ihres Studiums aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind, keine Schachspieler gibt. „Auch meine Frau und ich spielen kein Schach. Aber wir haben nach einer sportlichen Alternative für Mark gesucht, sind so auf Schach gekommen“, sagt Eduard Vlad, „und ich finde, er hat sein Glück jetzt gefunden. Wenn er am Brett sitzt, gibt es keine Behinderung. Dann genießt er das Spiel.“ Oder, wie es Mark auf etwas kindliche Weise formuliert: „Beim Schach fühle ich mich gegenüber den anderen gleich.“
Ein Freund der Familie hat Mark die Regeln beigebracht, nach drei Monaten war er schon besser als sein Lehrer. Die Eltern ergänzen inzwischen das Training im Verein durch einen Online-Schachlehrer, zweieinhalb Stunden pro Woche. Und wie läuft es bei Turnieren? Beim Toilettengang und ähnlichem helfen die Eltern. Wobei Mark da bei einem Turnier mal seine ganz spezielle Erfahrung gemacht hat. „Ich hatte eine wichtige Partie, musste aber dringend aufs Klo – und hatte nur noch fünf Minuten auf der Uhr“, erzählt er. Leider sei die Zeit für ihn vom Veranstalter nicht gestoppt worden. „Als ich zurückkam, hatte ich nicht einmal mehr drei Minuten“, sagt er und lächelt, „für ein Remis hat es aber gerade noch gereicht.“ Beeinträchtigt ihn seine Behinderung sonst irgendwie? „Beim Süßigkeiten holen während des Spiels bin ich nicht so schnell wie andere. Aber sonst nicht.“
Was große Turniere angeht, ist Mark schon durchaus erfahren. Beim Grenke-Turnier hat er im C-Open mitgespielt. Platz 238 von 490 Teilnehmern. Und nun die Deutsche Meisterschaft. „Ich bin schon aufgeregt“, sagt Mark, „aber wenn ich spiele, werde ich ruhig.“ Dann entspannen sich die Muskeln, er kommt zur Ruhe, „dann bin ich im Tunnel.“ Bis zum Ende der Partie. „Da bin ich dann oft traurig, weil ich gerne weiterspielen würde“.
Das Talent aus Heidelberg hat große Ziele. Augsburg sieht er da nur als Etappe. Wo das enden soll mit seiner Schach-Karriere? „Erst will ich Großmeister werden – und dann Weltmeister.“ Ein kleiner Inklusionsmeister ist er jedenfalls jetzt schon. (mw)
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