30. September 2013
Berlin war am vergangenen Wochenende Gastgeber eines herausragenden Leistungs- und Breitensportereignisses. 40.000 Teilnehmer, eine Million Zuschauer vermeldete die "Berliner Morgenpost". Die Polizei hatte weiträumig die Innenstadt von Berlin abgesperrt, Busse änderten ihre Linienführung, die Straßenbahnen wurden zu unüblichen Endhaltestellen umgeleitet und U-Bahn und S-Bahn waren noch voller als sie es ohnehin am Wochenende sind.
Den meisten dämmert es wohl schon: Von Schach kann hier keine Rede sein. Selbst wenn Anand und Carlsen ihren Weltmeisterschaftskampf kurzfristig nach Berlin verlegen würden, wären dafür keine starken Verkehrseinschränkungen nötig gewesen. Wenn überhaupt jemand davon Notiz genommen hätte.
Sportinteressierte Leser werden schon längst gemerkt haben, daß ich hier vom Berlin-Marathon schreibe, der mit einem Weltrekord eines Kenianers endete. Schnittpunkte mit dem Schach gab es nur im Hauptbahnhof der Stadt, als sich die Marathon-Läufer nach getaner Anstrengung auf die Heimreise begaben und dabei auch über die Brettspieler "stolperten", die etwas abseits im Bahnhof ihrem Hobby frönten.
Die Emanuel Lasker Gesellschaft (ELG) hatte zu ihrem dritten Schachfest eingeladen und dafür wieder die Deutsche Bahn als Partner gewonnen. Bahnhofschef Thomas Hesse war zur Eröffnung am Sonnabend und zu den Siegerehrungen am Tagesende persönlich vorbeigekommen. Am zweiten Tag besuchten auch zwei Vertreterinnen vom Deutschen Schachbund die Veranstaltung. Geschäftsführerin Heike Quellmalz und Anja Gering von der Wirtschaftsdienst GmbH schauten den Spielern beim Schnellturnier über die Schulter. Und hier ganz besonders dem Ehrenpräsidenten des Berliner Schachverbandes, Alfred Seppelt. Der 84-Jährige, der von seinem Sohn Hans-Joachim begleitet wurde, setzte sich sogar noch selbst ans Brett und spielte die letzten drei Runden des zweitägigen Turniers mit. Er gewann alle Partien und ließ dabei noch einmal seine Spielstärke und die inzwischen eingemottete DWZ von 2235 (aus dem Jahr 1991; die umgerechnete Ingo-Zahl) aufleben.
Der eigentliche Höhepunkt des Tages, das Simultan der Deutschen Meisterin Hanna Marie Klek, war da bereits vorbei. Die avisierte Teilnehmerzahl von 25 konnte an einem Sonntagmorgen um 11 Uhr leider nicht erreicht werden. Lediglich 14 Spieler und Spielerinnen setzten sich an die Bretter, wobei darunter auch zwei Nachzügler waren, die wohl eher zufällig vorbeikamen. Wer das zerbrechlich wirkende Mädchen war, gegen das sie da antraten, werden sie wohl nicht erfahren haben. Wahrscheinlich hätte ihnen dieses Wissen auch nichts genutzt. Die 18-jährige Mathematikstudentin war für die Beiden wie auch für die zwölf anderen Herausforderer mehrere Nummern zu groß. Hanna Marie gewann alle Partien, wie am Tag zuvor schon Rasmus Svane.
Mehr Widerstand leistete die Konkurrenz im direkten Duell gegeneinander. Mit dem ob seines hektischen Spielstils gefürchteten Berliner Kaffeehausspielers Philippe Vu (Dritter der Berliner Blitzmeisterschaft 2009), spielte die Deutsche Meisterin gleich mehrere Partien. Im Handicap-Blitz 5 gegen 2 Minuten setzte sich Vu mit 3:1 (zwei Remis) durch. Paul Werner Wagner beendete danach das ungleiche Duell. Nicht nur den Zeitnachteil von Hanna Marie empfand er als nicht ladylike, sondern er wollte auch das Schnellturnier starten, zu dem seine Simultangeberin extra einen Tag eher angereist war.
Die sieben Runden des Schnellturniers wurden auf zwei Tage verteilt, was dazu führte, daß nicht alle Teilnehmer an beiden Tagen spielten. So mußte Rasmus Svane auf sein Weiterspiel am Sonntag verzichten, weil ein Schachturnier in Oslo sein Ziel war. Hanna Marie Klek spielte an beiden Tagen mit, konnte allerdings nicht den Sieg davontragen. Am Sonnabend verlor sie zwei Partien und am Sonntag gab sie in der letzten Runde noch einen halben Punkt gegen Dr. Christian Rohrer ab. Damit wurde der für die Schachgesellschaft Zürich spielende 40-jährige Schweizer Sieger des Turniers. Etwas unerwartet angesichts der Konkurrenz, in der nach dem Rückzug von Svane eigentlich der neue Berliner Pokal-Einzelmeister FM Dirk Paulsen der Favorit war.
Hier die Abschlußtabelle des Schnellturniers:
Pl. | Teilnehmer | DWZ | Verein/Ort | S | R | V | Pkt. | PktSum |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
1. | Christian Rohrer | 2123 | Schachges. Zürich | 5 | 2 | 0 | 6.0 | 25.5 |
2. | FM Dirk Paulsen | 2243 | SG Lasker Steglitz-W. | 5 | 1 | 1 | 5.5 | 24.5 |
3. | Frank Hoppe | 1926 | SV Berolina Mitte | 4 | 2 | 1 | 5.0 | 22.5 |
4. | Philippe Vu | 2060 | SC Kreuzberg | 5 | 0 | 2 | 5.0 | 21.0 |
5. | Ignatz Biegler | 1826 | SK Altenkirchen | 4 | 1 | 2 | 4.5 | 18.0 |
6. | Hanna Marie Klek | 2263 | SC Erlangen | 4 | 1 | 2 | 4.5 | 17.5 |
7. | Fabian Wilde | 1824 | SV Bau-Union | 4 | 0 | 3 | 4.0 | 19.0 |
8. | Mohammed Hassan Solhjou | 1919 | SC Kreuzberg | 4 | 0 | 2 | 4.0 | 14.0 |
9. | IM Rasmus Svane | 2407 | Hamburger SK | 3 | 1 | 0 | 3.5 | 19.5 |
10. | Adis Artukovic | 2020 | Berlin | 3 | 1 | 3 | 3.5 | 17.5 |
11. | Paul Werner Wagner | 1774 | Deutsche Bahn-BSW | 3 | 1 | 3 | 3.5 | 12.5 |
12. | Helmut Goepel | 1787 | CFC Hertha | 3 | 0 | 4 | 3.0 | 12.0 |
13. | Thorsten Beier | 1700 | Berlin | 2 | 2 | 3 | 3.0 | 11.0 |
14. | Jörg Weber | 1684 | SC Eintracht Berlin | 3 | 0 | 4 | 3.0 | 11.0 |
15. | Alfred Seppelt | 2235 | SG Lasker Steglitz-W. | 3 | 0 | 0 | 3.0 | 6.0 |
15. | Bart van Roon | 1600 | Berlin | 3 | 0 | 0 | 3.0 | 6.0 |
17. | Ben-Luca Schreiber | 1600 | SG Lasker Steglitz-W. | 2 | 1 | 1 | 2.5 | 15.0 |
18. | Anh Van Nguyen | 1518 | USV Potsdam | 2 | 1 | 4 | 2.5 | 12.0 |
19. | Dr. Rudolf Schindler | 1757 | SG Lasker Steglitz-W. | 2 | 1 | 0 | 2.5 | 5.5 |
20. | Uwe Zeidler | 1803 | SK Präsident | 2 | 0 | 2 | 2.0 | 12.0 |
21. | Pascal Güssow | 1630 | Schachclub Rathenow | 2 | 0 | 2 | 2.0 | 9.0 |
22. | Ludwig Stern | 1290 | Brandenburger LSSV | 1 | 2 | 4 | 2.0 | 8.5 |
23. | Thomas Schmädicke | 878 | USV Potsdam | 2 | 0 | 5 | 2.0 | 7.0 |
24. | Leon Sasse | 890 | SV Kinder-Jugendschach | 2 | 0 | 5 | 2.0 | 6.0 |
25. | Frank Mylke | Berkenbrück | 2 | 0 | 5 | 2.0 | 5.0 | |
26. | Sandy-Michelle Mylke | 804 | Schachverein Briesen | 1 | 1 | 5 | 1.5 | 6.5 |
27. | Wladislaw Gruchowsky | Berlin | 1 | 0 | 3 | 1.0 | 6.0 | |
28. | Felix Geißler | 1644 | SC Kreuzberg | 1 | 0 | 3 | 1.0 | 6.0 |
29. | Ekkehard Axmann | Berlin | 1 | 0 | 2 | 1.0 | 2.0 | |
30. | Michael Schmädicke | 916 | USV Potsdam | 1 | 0 | 6 | 1.0 | 2.0 |
31. | Jürgen Mika | 1099 | SV Werder/H. | 1 | 0 | 2 | 1.0 | 1.0 |
32. | Ludwig Straube | Berlin | 0 | 0 | 2 | 0.0 | 0.0 |
Nachdem ich bereits meine Partien vom Sonnabend veröffentlicht habe, hier nun alle sieben Partien komplett:
Bevor Hanna Marie Klek's schachliche Fähigkeiten am Sonntag auf Herz und Nieren getestet werden durften, mußte sie Paul Werner Wagner auf der Bühne noch einige Fragen beantworten.
Im Alter von 8 Jahren erlernte sie von ihrer Mutter das Schachspielen. Der erste Trainer beim SC Erlangen war Thomas Walter, der damals die Jugendgruppe des Vereins aufgebaut hatte. Die Mädchen der Gruppe trainiert Hanna Marie inzwischen selbst.
Mit 12 wurde GM Michael Prusikin ihr Trainer, was er auch heute noch ist. Wenn sie sich nicht persönlich treffen, halten sie per Skype miteinander Kontakt, wie zum Beispiel bei der Deutschen Frauen-Einzelmeisterschaft im März in Bad Wiessee. Ihren Meistertitel damals hätte Hanna Marie beinahe zunichte gemacht. Gegen My Linh Tran wollte sie nach 40 Zügen schon aufgeben. "Meine Gegnerin wanderte aber ab dem Zeitpunkt nur noch umher. Na gut, ein paar Züge mache ich noch." so Hanna Marie zu Wagner. Ihre kämpferische Einstellung wurde mit einem Remis belohnt.
Zu ihrem Training und ihrem Erfolgsgeheimnis befragt, äußerte Hanna Marie eine Vorliebe für das Spiel gegen Menschen. Deshalb bleibt sie auch gern länger im Verein. Ihren Vater überredete sie früher immer, um nach dem Kindertraining noch gegen Erwachsene spielen zu dürfen.
Nach ihrer Verbindung zu Emanuel Lasker befragt, verwies Hanna Marie auf die große Lasker-Monographie die sie 2012 bei der ND-Damenschachgala in Berlin geschenkt bekommen hatte. Das Werk ist auch eine hervorragende Literatur parallel zu ihrem Mathematikstudium.
Ob sie danach im Simultan einige der Erkenntnisse aus der Schachhistorie umgesetzt hat, ist nicht überliefert. Sie kündigte zum Schluß des Gespräches nur mal schon an, daß sie zwischen e4 und Sf3 als ersten Zug variieren wird.
Hier eine Kostprobe ihres Könnens:
PGN Viewer powered by chesstempo.com
Der ehemalige Breitensportreferent des DSB, Ralf Schreiber, war an beiden Tagen vor Ort um mit einem kleinen Stand und zwei Großfeldschachplanen Interessenten für das Schachspiel in Kindergarten und Grundschule begeistern zu können. Für sein Projekt "Schach für Kids" (SfK) bekam er 2009 sogar den Deutschen Schachpreis, eine Auszeichnung für Personen, die sich um die Verbreitung des Schachspiels in der Bevölkerung verdient gemacht haben.
Die Initiative wurde 2006 von Ralf Schreiber gegründet und sieht sich als 'ein auf wissenschaftlicher Basis erstelltes neues pädagogisches Hilfsmittel zur Förderung der kindlichen Entwicklung'. Auslöser war seine Tochter Sarah, die mit zweieinhalb Jahren das Schachspiel aus eigenem Antrieb erlernte.
'Die Beobachtungen während dieser Lernphase und der Nachfolgezeit (2003 bis 2005) motivierten ihn zu prüfen, ob dies ein Einzelfall ist, oder ob Kindern ab 3 Jahren grundsätzlich zu wenig zugetraut wird. Voraussetzung für den Startschuss mit Praxisversuch und wissenschaftlicher Studie war für ihn, dass die Kleinen das Schachspiel freiwillig und mit Freude erlernen.'*
Mit unendlich viel privaten Einsatz finanziert Schreiber "Schach für Kids" - teils aus persönlichen Mitteln, teils mit Hilfe von Unterstützern und Firmen. Für interessierte Pädagogen, Erzieher, Lehrer und Eltern bietet er Kurzseminare an und stellt entsprechendes Begleit- und Spielmaterial zur Verfügung.
In Berlin hat SfK noch nicht Fuß gefaßt, weshalb die Präsenz auf dem ELG-Schachfest ein hoffentlich guter Anfang war, in der Hauptstadt etwas zu bewegen. Mit dem Berliner Breitenschachreferenten Olaf Sill hat er schon mal einen Unterstützer gefunden. Ob das Projekt auch beim Gros der schachinteressierten Bevölkerung ankommt wird man sehen. Einige Reisende und Passanten blieben jedenfalls schon mal kurz stehen und ließen ihre Kinder auf den beiden großen Schachplanen mit den Plastikpüppchen spielen.
Frank Hoppe
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 9155