Chronik einer stillen Revolution – Peter Doggers beschreibt in „Schacheuphorie“ den globalen Schachboom

16. Dezember 2024

Peter Doggers

Revolutionen sind meist schnelle, laute und schlagartige Umwälzungen. Anders beim Schach, wo sich in den letzten Jahrzehnten eine allmähliche aber stetige Entwicklung eher evolutionär vollzogen hat. Ein schrittweiser Wandel, der sich nun zu einem globalen Schachboom gesteigert hat, der unser Spiel komplett verändert hat und weiter verändern wird. Dies ist die Kernthese von „Schacheuphorie“, dem neuen schachkulturellen Überblickswerk von Peter Doggers. Das Buch wird von DSB-Mitarbeiter Veit Godoj rezensiert:

Der 49-jährige holländische Schachjournalist ( https://peterdoggers.com) ist selbst seit Jahrzehnten ein Spieler von Meisterstärke, der mit zwei erreichten IM-Normen und einer höchsten Elo-Wertung von 2292 ein hohes Schachverständnis besitzt. Als Direktor für Nachrichten und Events bei Chess.com, der größten kommerziellen Schachplattform der Welt, verfügt er über ein großes Netzwerk und Zugang zu vielen Hintergrundinformationen aus der Welt des Schachs.

Doggers journalistische Professionalität und seinen Kenntnisreichtum spürt man durchgängig bei der Lektüre von „Schacheuphorie“. Und natürlich sein Herz fürs Schach. Auf fesselnde Weise nimmt er den Leser an die Hand und nimmt ihn mit auf die Reise vom mittelalterlichen Schach bis in die Gegenwart, die von Algorithmen und neuronalen Netzen geprägt ist. Dabei bespricht er auch heikle Themen wie etwa Cheating und Schachsucht. Doggers geht auch der Frage nach, wer von den „großen Dreien“, Fischer, Kasparow und Carlsen, denn nun der Allergrößte des Schachs - „GOAT“ = Greatest of all times -  ist, und warum.

Zwei Fakten aus „Schacheuphorie“ beleuchten beispielhaft das aktuelle Ausmaß der Schachrevolution. Da ist zum einen das Wachstum der Internetplattform Chess.com: „Im Frühjahr 2024, (…), hatte das Unternehmen insgesamt 714 Mitarbeiter und 167 Millionen registrierte Nutzer (40 Millionen monatlich aktiv), was es zum bevölkerungsmäßig neuntgrößten „Land“ auf unserem Planeten machte - gleich hinter Bangladesch und weit vor Russland."  Eine Schachplattform erobert die Welt.

Zum anderen habe Magnus Carlsen seinen Spielstil nach dem Studium von KI Alpha Zero-Partien verändert und angepasst, ja eine ganz neue Sichtweise aufs Schach entwickelt. Grundlage hierfür sei das Werk „Game Changer“ von Matthew Sadler und Natasha Regan aus dem Jahr 2019 gewesen. Dabei habe Carlsen gelernt „z.B. mit einem Bauern am äußersten Rand vorzurücken, Bauern zu opfern und flexibler mit dem Konzept der Königssicherheit umzugehen – eine wirklich inspirierende Geschichte für jeden Schachfan“.

Das Fazit unseres Rezensenten: Peter Doggers ist ein Meisterwerk der Schachliteratur gelungen. Denn wer die Leidenschaft für unser großes Spiel verstehen will, muss wissen, was es im Inneren bewegt und wie es geworden ist, was es heute ist. Und dies erfährt man in diesem Buch, das selbst mit viel Leidenschaft geschrieben wurde, was man auf jeder Seite spürt. „Schacheuphorie“ ist ein Standardwerk im besten Sinne. Eine ideale Darstellung der Schachkulturgeschichte für Einsteiger, Neugierige und einfach Schachinteressierte.

Aber auch für den erfahrenen Schachfan ist die Lektüre ein Erlebnis. Ein Partienteil im Anhang zeigt eine Auswahl historisch herausragender Partien. Der einzige kleine Kritikpunkt: Bei der Fülle an interessantem Material wäre ein Sachregister neben dem Quellenverzeichnis im Anhang hilfreich gewesen.

Das Buch ist im Ullstein Taschenbuch-Verlag erschienen und kostet 14,99 Euro. Ein ideales Last-Minute-Weihnachtsgeschenk für alle, die mehr über unser königliches Spiel erfahren möchten.

Schacheuphorie

Über die Zukunft des klassischen Schachs, Schach 960 - und was Schachklubs tun müssen, um in digitalen Zeiten weiter interessant zu bleiben - Peter Doggers im Interview

In Deutschland wurde seit Jahrzehnten kaum ein aktualisierter Überblick über die ältere und neuere Schachgeschichte mehr veröffentlicht. Berühmte Vorgänger waren Harold Schönbergs „Die Großmeister des Schachs“ aus Amerika und „Geschichte des Schachs“ von Silberman/ Unzicker aus den Siebzigern. Ihr Buch „Schachrevolution“, das auf Englisch, Französisch, Niederländisch und in der deutschen Ausgabe unter dem Titel „Schacheuphorie“ erschienen ist, schließt eine Lücke in der Darstellung der jüngeren Schachgeschichte, die sich etwa zur Zeit des Weltmeisters Kasparov öffnete. War das Ihr Ziel?

Ja, aber nicht in erster Linie. Mein Buch startet vor 1500 Jahren und endet im Jahr 2024. Allerdings liegt der Fokus tatsächlich auf der Technologie und was sie für Auswirkungen aufs Schach hat. Der erste der drei Abschnitte im Buch behandelt die ältere Geschichte des Schachs, wenn man so will. Die zwei weiteren handeln vom Einfluss der Computer und KI sowie dem Internetschach und Internetstreaming. Und in manchen Bereichen musste ich mich beschränken, da hätte man auch mehr schreiben können, zum Beispiel über Schachpolitik, Thema PCA und so weiter, oder auch Fernschach. Meine Zielgruppe sind all diejenigen, die neu zum Schach gekommenen sind, die nicht schon in Vereinen sind und auch diejenigen, die nahe am Schach sind, also etwa die Partner oder Eltern von Schachspielern. Es wäre schön, wenn sie besser verstehen könnten, was ihre Lieben so fasziniert. Ihnen wollte ich zeigen, wo Schach herkommt und was Schach heute umfasst. Ich hoffe, auch da eine Lücke zu schließen, zwischen den Schachfans und denjenigen, um diese Fans herum, die diese Leidenschaft nicht immer verstehen. Mein Buch wird übrigens bald auch in Schwedisch, Italienisch, Portugiesisch und Russisch erscheinen.

Bei der Schachrevolution, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, geht es um den enormen Einfluss von Computern, künstlicher Intelligenz und dem Internet auf unser altes Schachspiel. Glauben Sie, dass es eine Revolution hin zu einer besseren Schachwelt gibt?

Diese digitalen Techniken haben dazu geführt, dass die Menge an Menschen weltweit, die sich für Schach interessieren, sehr stark gewachsen ist. Und das ist nun einmal gut fürs Schach. Dabei haben sich nicht nur die Computer vernetzt, sondern die Menschen auf eine Art auch mit den Computern, KI und Engines beeinflussen inzwischen die menschliche Weise, Schach zu sehen. Ich denke, dass Schach immer weiter in den Mainstream eindringt und das sehe ich sehr positiv. All das bedeutet aber auch Veränderung und diese wird vielleicht nicht immer von allen begrüßt.

Der Schachboom der siebziger Jahre des 20.Jahrhunderts wurde von der charismatischen Person Bobby Fischer und seinem enormen Erfolg angetrieben. Jetzt erleben wir einen neuen Schachboom, der mit den Corona-Beschränkungen, der Netflix-Serie „Damengambit“ und der berüchtigten Carlsen-Niemann-Affäre begann, wie Sie in Ihrem Buch schreiben. Welche Rolle wird der „Old School“-Schachklub in einer revolutionierten, digitalisierten Schachwelt spielen? Wird Schach zu einem E-Sport, der hauptsächlich im Internet gespielt wird?

Auch in der Zeit von Kasparows Match gegen Deep Blue war Schach eine Weile in allen Mainstreammedien und es war wie ein kleiner Boom, die Aufmerksamkeit war da. Aber die Fischer-Ära hat wohl mehr Menschen nachhaltig zum Schach gebracht, denke ich. Der Schachklub alten Stils ist definitiv unter Druck geraten. Gäbe es das Internet nicht, wären die Klubs heute sicher größer. Es spielen wirklich viele Menschen im Internet und die Klubkultur interessiert sie nicht sehr. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Klubs, wo eine Menge passiert, so zum Beispiel in meinem Heimatklub in Hoorn in den Niederlanden. Da gibt es reichlich Beteiligung am Spielabend, darunter auch viele Jüngere und weibliche Klubspielerinnen. Aber es ist wichtig, dass die Klubs sich auf die Jugend konzentrieren und entsprechende Angebote machen. Aber die Internetkonkurrenz ist mächtig und es braucht gute Konzepte für die Klubs, dann werden sie weiter bestehen. Es werden heute täglich Millionen von Partien gespielt und weit über 90 Prozent davon im Internet. Ich glaube aber nicht, dass das klassische Brettschach wirklich in Gefahr ist. All die internationalen Nahschachevents werden über das Internet ein immer breiteres Publikum finden und es wird eine Koexistenz mit den vielen Online-Events geben. Neu Interessierte finden weiter zum Schach und sie werden an einem Holzbrett üben und an einem Notebook lernen. Eine andere Frage ist, ob das klassische Schach in Zukunft seine Position gegenüber Schach 960 behalten wird. Magnus würde lieber 960 spielen, Bobbys Erfindung. Bleibt abzuwarten, was die FIDE machen wird. Es gibt ja auch Vorschläge, die Bedenkzeiten zu verkürzen, etwa auf 45 Minuten pro Spieler. Ich denke aber, dass das klassische Schach bestehen bleibt. Die WM in Singapur war recht erfolgreich, sie haben sogar Google als Sponsor, was erstaunlich ist. Es wird genügend Publikum für klassisches Schach und für kürzere Online- und Offlineformate geben. Für die älteren Schachfreunde wird es in Zukunft allerdings schwerer, mit allen neuen Entwicklungen mitzuhalten, aber Schach wird immer vielfältiger. Noch eine wichtige Veränderung ist, dass Asien der Schachkontinent mit dem größten Zuwachs an Schachinteressierten ist und noch weiter werden wird. Ein Chinese und ein Inder spielen in Asien um die WM und viele Millionen in Asien und der Welt schauen zu. Es würde mich nicht überraschen, wenn zum Beispiel Chessbase India in wenigen Jahren mehr Zuschauer haben würde, als Levy Rozman heutzutage. Indien hat jetzt auch schon 85 Großmeister, und auf allen Open trifft man heute indische Spieler. So wie früher die Sowjetunion das Schach dominierte, könnte dies Indien vielleicht in Zukunft tun.

// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 36244

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