6. Mai 2014
Dorian Rogozenco ist neuer Bundestrainer. Der 40-jährige Großmeister hat sich bei der Ausschreibung des Deutschen Schachbundes (DSB) unter zahlreichen Bewerbern durchgesetzt. Rogozenco kam in der moldawischen Hauptstadt Chisinau zur Welt, ist diplomierter Sportlehrer sowie FIDE-Trainer und arbeitete bereits mit dem ehemaligen FIDE-Weltmeister Ruslan Ponomarjow, Viktor Bologan und dem neuen deutschen Nationalspieler Liviu Dieter Nisipeanu zusammen.
Der Vater einer 13-jährigen Tochter namens Teodora Nana (Elo 1882) lebt mit seiner Gattin Ileana (WFM mit einer Elo von 2033) in Hamburg. In der Hansestadt knüpfte Rogozenco, der aktuell eine Elo-Zahl von 2513 aufweist, 1996 erste Verbindungen. „Ich flog damals gleich nach der Olympiade in Jerewan, wo ich für Moldawien spielte, nach Hamburg, um hier am Internationalen HSK-GM-Turnier teilzunehmen. Seitdem spielte ich regelmäßig die Hamburger Internationale Einzelmeisterschaft“, erzählt der neue Bundestrainer. Der Umzug an die Elbe erfolgte allerdings erst 2007, „als die Firma meiner Frau eine Filiale in Hamburg eröffnete und ihr ein Arbeitsplatz angeboten wurde“. Hartmut Metz sprach mit Dorian Rogozenco über sein neues Amt und seine Ziele.
SM64: Was war Ihre erste Aufgabe als Bundestrainer?
Rogozenco: Neben der Mitwirkung bei der Aufstellung der verschiedenen Pläne in der Kommission Leistungssport sollte ich mich möglichst schnell mit den Kaderspielern in Verbindung setzen und Trainingseinheiten durchführen. Ah ja, ganz dringend am Anfang war die Zuschuss-Aufteilung für die Männer-Europa-Einzelmeisterschaft in Jerewan.
SM64: Das liebe Geld und der Bürokratismus … Was gibt es sonst noch Dringendes zu tun?
Rogozenco: Nach allen Nominierungen sehe ich die Erfüllung des Projektes „Schachjahr“ als die nächste wichtige Aufgabe.
SM64: „Schachjahr“? Das bedeutet?
Rogozenco: Die zwei „Prinzen“, Matthias Blübaum und Dennis Wagner, werden in diesem Jahr mit ihrem Abitur fertig sein. Die Hauptidee ist, dass sie sich danach ein Jahr maximal aufs Schach konzentrieren: mit vielen Turnieren und viel Training. Im Großen und Ganzen ist das Projekt schon entwickelt, aber es gibt noch Sachen zu klären, bevor es sicher feststeht.
SM64: Haben Sie bei Ihrer Aufgabe freie Hand oder ist der Sportdirektor Uwe Bönsch, Ihr Vorgänger als Nationaltrainer, weisungsbefugt?
Rogozenco: Ich habe vollständig freie Hand. Der Sportdirektor Uwe Bönsch ist aber immer dabei, wenn ich seinen Rat oder Hilfe brauche.
SM64: Wie sieht die Aufgabenverteilung zwischen Ihnen beiden aus?
Rogozenco: Ich soll mich mehr auf das Training konzentrieren, während die organisatorischen Dinge bei Herrn Bönsch liegen. Die Nominierungen, Lehrgänge, Einzeltraining und Begleitung der Kaderspieler bei manchen Turnieren gehört zu meinem Bereich.
SM64: Das hört sich so an, als ob Uwe Bönsch von seinen schärfsten Kritikern, den Spielern, ferngehalten wird. An ihm gab es dauernd Kritik. Auch Nachwuchstrainer Bernd Vökler kam nicht immer ungeschoren davon. Steht das den Spielern zu oder sollen sie die Klappe halten und einfach spielen?
Rogozenco: Kritik zu üben ist das Einfachste. Es soll gegenseitig Respekt und Vertrauen herrschen. Ich verstehe sehr gut, wie schwer es ist, auf höchstem Niveau zu spielen – und ich weiß die Arbeit von Spielern zu schätzen. Und ich vertraue den Spielern, dass sie auch meine Tätigkeit respektieren werden. Wenn es Probleme gibt, sollten wir – die Spieler genauso wie ich – gemeinsam nach Lösungen suchen.
SM64: Sie kommen gut mit allen Spielern aus? Vor allem Arkadij Naiditsch gilt als, sagen wir mal, kritikfreudig.
Rogozenco: Ich habe weder mit Arkadij noch mit anderen Spielern Probleme.
SM64: Für die Olympiade im August im norwegischen Tromsø haben Sie die alten Gesichter nominiert, nimmt man Neuzugang Liviu Dieter Nisipeanu aus. Dafür musste der remisfreudige Igor Khenkin weichen. Heißt das also: Weiter wie bisher ...
Rogozenco: Das heißt, dass wir in Tromsø die zurzeit stärksten Spieler Deutschlands haben werden.
SM64: Wie kam es aus Ihrer Sicht zum Wechsel von Nisipeanu? Als Moldawier sind Sie ja fast Landsmann des bisherigen Rumänen und haben ihn auch schon betreut. Hatten Sie Ihre Finger mit im Spiel?
Rogozenco: Nisipeanu hat deutsche Wurzeln und besaß schon immer sehr gute Kontakte nach Deutschland. Zum Beispiel als ich 1993 anfing für den USC Magdeburg zu spielen, war Liviu Dieter schon seit mehreren Jahren im Verein. Seit 2008 gibt es bestimmte Probleme zwischen dem rumänischen Schachverband und ihm. In den vergangenen fünf Jahren hat Liviu Dieter nicht mehr für die rumänische Nationalmannschaft gespielt. Den Wunsch, nach Deutschland zu wechseln, hatte er bereits vor meiner Ernennung geäußert und er hatte sich schon entschieden, das zu machen. Der DSB hat ihm dabei nur geholfen und ihn auf keinen Fall irgendwie beeinflusst.
SM64: Hat das Team nun neben Naiditsch einen zweiten Frontmann, der bisher schmerzlich vermisst wurde?
Rogozenco: Ja, das kann man wohl sagen, weil Naiditsch und Nisipeanu nicht nur sehr starke Spieler sind, sondern auch starke Persönlichkeiten. Andererseits betrachte ich die Mannschaft als eine einzige Einheit. Brett fünf ist genauso wichtig für die Mannschaft wie Brett eins.
SM64: Was rechnen Sie sich in Tromsø aus?
Rogozenco: „Tue, was du sollst, komme, was da wolle!“ Ich bin im Profischach seit mehr als 20 Jahren. Das ist lange genug, um sich nicht mehr mit Prognosen zu beschäftigen. Mein Ziel ist, dass alle Spieler das Maximum von dem geben, was sie können. Und dass sie in guter Form nach Tromsø kommen. Wenn das gelingt, haben wir gute Chancen, in den Top 10 zu landen, vielleicht sogar mehr als das.
SM64: Haben wir keine frischen Gesichter? Die „Prinzen“ überzeugten doch immerhin in der Bundesliga mit GM-Normen. Ich fand auch Dennis Wagner mutig, wie er bei der Bundesliga-Endrunde den „Hexer von Riga“, Alexej Schirow, mit dessen eigenen Mitteln ansprang und kein Remis wollte.
Rogozenco: Im Vergleich zu 2013 gibt es in diesem Jahr bei den Männern einen Wechsel, bei den Frauen sogar zwei „neue Gesichter“. Daher ist Ihre Frage nicht ganz berechtigt. Es gibt wahrscheinlich nur wenige Leute, die so sehr „die Prinzen“ in der Nationalmannschaft sehen möchten, wie ich es tue – aber wir reden zurzeit über ein etwas anderes Niveau. Die Zeit der Prinzen wird noch kommen, allerdings liegt alles in deren Händen.
SM64: Haben wir einen deutschen Magnus Carlsen in der Hinterhand? Oder wie weit können es die „Prinzen“ oder andere Talente maximal bringen?
Rogozenco: Ich würde mich sehr freuen, wenn wir auch unseren „Magnus Carlsen“ hätten. Ja, Talente gibt es! Und von meiner Seite werde ich alles tun, um ihnen zu helfen, sich so weit wie möglich zu entwickeln. Allerdings: Um es so weit wie Magnus Carlsen zu bringen, müssen sehr viele Faktoren stimmen. Anders gesagt: Alle Sterne müssen in der richtige Konstellation stehen.
SM64: Was trauen Sie Naiditsch zu bei Training mit Ihnen? An den Top 20 war der deutsche Spitzenspieler schon nah dran. Was fehlt ihm noch?
Rogozenco: Wir wissen ja alle, dass Arkadij im Schach vieles kann. Und ich bin mir sicher, dass er noch mehr erreichen wird, als er bis jetzt erreicht hat. Was ihm fehlt, ist keine einfache Frage. Deshalb würde ich sie zurzeit lieber nicht beantworten.
SM64: Natürlich ist das schwer zu beantworten – aber bitte: Eine kleine Andeutung, was man bei einem Ass wie ihm vielleicht doch verbessern kann.
Rogozenco: Gut, nehmen wir mal das Kandidatenturnier, das vor Kurzem endete. Wer hat gedacht, dass Anand dort gewinnen wird? Kein einziger Mensch! Was ist denn mit Kramnik und Aronjan dort passiert, die teilweise so schlecht gespielt haben? Wer hat schon klare Antworten dafür? Spitzenschach ist eine sehr komplexe Sache, weil sehr oft der Unterschied zwischen guter und schlechter Form aus vielen Kleinigkeiten resultiert und manchmal sogar im außerschachlichen Bereich liegt. Und Arkadij kenne ich noch nicht gut genug, um jetzt in der Lage zu sein, Ihre Frage konkret zu beantworten. Ich sollte zuerst wenigstens bei einem Turnier zusammen mit Arkadij arbeiten, damit ich seine Entscheidungen in verschiedenen kritischen Momenten beobachten kann. Es gibt noch einen wichtigen Aspekt hierbei: Mir stehen nur sehr begrenzte Möglichkeiten offen, Training mit der Nationalmannschaft durchzuführen. Das klingt wahrscheinlich etwas verblüffend und hoffentlich wird sich hier in die Zukunft etwas ändern, aber zurzeit ist das Training mit den Nationalspielern in meiner Aufgabenstellung fast gar nicht vorgesehen.
SM64: Das ist natürlich ein Problem. Bei den Damen fehlt Ketino Kachiani-Gersinska. Ist die Zeit der früheren Spitzenspielerin abgelaufen?
Rogozenco: Sie haben mir selbst gerade gesagt, dass wir zu wenig neue Gesichter haben und jetzt fragen Sie mich, warum ein „altes Gesicht“ fehlt.
SM64: Das ist keine Parteilichkeit für Junge oder Alte – sondern soll Gründe für den Status quo bei den Männern und Veränderungen bei den Frauen ermitteln. Also?
Rogozenco: Ich schätze Ketino sehr als Spielerin – und natürlich ist ihre Zeit nicht abgelaufen. Andererseits hatte Ketino vor zehn Jahren etwa 100 Elo-Punkte mehr als jetzt – und sie wird auch nicht jünger. Um wieder auf Spitzenniveau zu kommen, braucht sie einen sehr gut geplanten Trainings- und Turnierplan. Mit der richtigen Anstrengung ihrerseits traue ich Ketino zu, dass sie wieder auf das alte Niveau kommen kann.
SM64: Von Elisabeth Pähtz hatte man sich einst auch mehr erhofft, ja vielleicht sogar den WM-Titel. Können Sie noch Potenzial bei ihr fördern?
Rogozenco: Ich denke, möglicherweise befindet sich Elisabeth in einer Art Krise. Ihr Potenzial weiter zu fördern, ist eine der größten Herausforderungen für mich.
SM64: Offene Baustellen scheint es also mehr als genug zu geben. Sie haben aber nur eine halbe Stelle beim DSB. Wäre nicht eine Vollzeit-Stelle für Sie und für die Spieler wünschenswert?
Rogozenco: Schwer zu sagen. Ich versuche noch als Spieler ab und zu aktiv zu sein – und dafür brauche ich auch Zeit. Die Zukunft wird zeigen, was am besten für alle ist.
SM64: Sie spielen weiter für den Hamburger SK in der Bundesliga? Oder treten Sie künftig als Spieler kürzer?
Rogozenco: Ich möchte versuchen, weiter aktiv für den HSK zu spielen, allerdings ist mein Wunsch nicht genug – dafür muss ich noch gut spielen.
SM64: Was haben Sie als neuer Bundestrainer, was andere Bewerber nicht hatten?
Rogozenco: Gute Frage, nur an den falschen Adressaten.
SM64: Gut, bei nächster Gelegenheit frage ich DSB-Präsident Herbert Bastian. Ich würde nach dem bisherigen Verlauf des Interviews sagen, Gründe waren: Sie sind analytisch, ziemlich direkt und haben sehr konkrete Vorstellungen, die Sie auch zielstrebig umsetzen wollen. Habe ich etwas vergessen?
Rogozenco: Sie haben ziemlich korrekt alles genannt. Wahrscheinlich gehört außer Ehrgeiz auch noch Maximalismus zu meiner Persönlichkeit.
SM64: Interessant fand ich Ihre Aussage im Vorfeld des Mitropa-Cups, dass mangelnde Fitness Ihrer Spieler ein Problem sei! Wer muss sein Bäuchlein abschmelzen und mehr tun?
Rogozenco: Manchmal kann etwas mehr Bäuchlein gar nicht schaden (lacht). Im Ernst: Es geht einfach um die Ausdauer: Ein guter Schachspieler soll den Kopf nach sechs Stunden am Brettsitzen immer noch klar haben. Und da manche Turniere, wie zum Beispiel die Olympiade, über zwei Wochen dauern, ist die Ausdauer ein sehr wichtiger Faktor.
SM64: Wie wirkt sich bessere Fitness Ihrer Ansicht nach in Elo-Punkten aus? Haben wir demnächst nur noch Marathonläufer im Team?
Rogozenco: Nein, die Halbmarathonläufer haben auch eine Chance (lacht). Okay, ich sehe, es ist immer noch nicht klar ... Dann schauen Sie Magnus Carlsen an, den haben Sie selbst erwähnt. Wie viel Sport treibt der? Das letzte Beispiel: An den Ruhetagen während des WM-Wettkampfs gegen Anand hat Carlsen Sport gemacht. Ich sage nicht, dass das entscheidend ist, ich sage nur, dass ich bei manchen Kaderspielern bemerkt habe, dass sie diesen Aspekt nicht nur unterschätzen, sondern völlig ignorieren.
SM64: Herr Rogozenco, vielen Dank für das Gespräch.
Eine kleine Partiekostprobe rundet dieses Interview ab. Der Bundestrainer spielte sie kurz vor seinem Amtsantritt im Spätherbst des letzten Jahres in der Bundesliga.
Nimzowitschindisch E 35
D. Rogozenco (HSK, 2516)
A. Lauber (SF Berlin, 2443)
Veröffentlicht im Schach-Magazin 64, Heft Mai 2014
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung Schünemann-Verlag/Otto Borik
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 9745