1. September 2016
Der Start in die beiden Olympiawochen begann gestern etwas holprig. Der Flieger in Frankfurt am Main sollte um 13.40 Uhr gehen, doch noch regierte das Chaos auf dem Flughafen. Eine durchreisende Frau, die Stunden vorher um 9 Uhr voreilig den Kontrollbereich verließ, veranlaßte die Bundespolizei das Terminal zu räumen und eine Suche nach der "Flüchtigen" zu starten. Die Auswirkungen der Räumung waren noch bis in den Abend hinein spürbar. Viele Reisende glaubten ihren Flug zu verpassen, weil nicht mehr rechtzeitig abgefertigt werden konnte. Davon betroffen war auch ein Teil der deutschen Olympiadelegation (u.a. Schiedsrichter Klaus Deventer und Nationalspieler Daniel Fridman), die gestern bereits anreisten. DSB-Sportdirektor Uwe Bönsch bekam dann aber die gute Nachricht, daß wohl doch alles bei dem um eine Viertelstunde verspäteteten Flug in die aserbaidschanische Hauptstadt klappte.
Der große Rest der Delegation kommt heute nach, darunter bis auf die schon in Aserbaidschan weilenden Elisabeth Pähtz, Georg Meier und Fridman, alle anderen Nationalspieler, Kapitäne und Trainer. In der kommenden Woche vervollständigt sich die deutsche Reisegruppe um DSB-Präsident Herbert Bastian, den FIDE-Delegierten Dr. Dirk Jordan, Schachjournalist und Großmeister Raj Tischbierek und Christian Michna, den Ehemann unserer Nationalspielerin Marta Michna.
Kurz vor dem Abflug in Frankfurt am Main schickte uns Bundestrainer Dorian Rogozenco dieses Foto. David Lobzhanidze als Fotograf wird von uns vermutet, denn er fehlt auf dem Bildnis.
Alle scheinen gut gerüstet für das Abenteuer Baku. Bei den Frauen geht Deutschland als Nummer 10 der Setzliste unter 142 Mannschaften an den Start, im offenen Turnier als Nummer 13 von 180 Mannschaften. Bei dieser Konstellation eine Medaille zu erhoffen, wäre zu vermessen. Dazu gehört eine dauerhaft gute Form aller Spieler und etwas Glück bei der Auslosung.
142 bzw. 180 Mannschaften bedeuten übrigens einen neuen Teilnehmerrekord! Bei der Heimolympiade vor acht Jahren in Dresden waren es 111 und 147 Mannschaften.
Vor zwei Jahren im norwegischen Tromsø erwies sich China als die stärkste Nation im offenen Turnier. Die Asiaten konnten es damals nach dem "Schlußpfiff" kaum fassen, das sie zum ersten Mal die Goldmedaille errungen hatten. Wang Yue und Ni Hua brachen in Tränen aus, als der unglaubliche Erfolg feststand.
Auch 2016 gehört China zum engsten Favoritenkreis. Nur Russland und die USA bringen noch etwas mehr Elo auf die Waage. Die USA haben sich dabei dank der Einwanderer auf dieses Level gehievt. Hikaru Nakamura kam als Zweijähriger in die Vereinigten Staaten, Wesley So und Fabiano Caruana reiften erst auf den Philippinen und in Italien zu absoluten Stars des Weltschachs heran.
Einen Eloschnitt von über 2.700 können außerdem noch Aserbaidschan und die Ukraine vorweisen. Bei Aserbaidschan sitzt mit Arkadij Naiditsch ein alter Bekannter am Brett. Naiditsch bestritt von 2006 bis 2014 77 Länderspiele für Deutschland, bevor er die Nation wechselte.
Übrigens hat auch die Schweiz einen ehemaligen deutschen Nationalspieler in ihren Reihen. Sebastian Bogner kam 33 mal in Länderkämpfen zwischen 2006 und 2010 zum Einsatz. Danach verlegte er seinen Lebensmittelpunkt in das südliche Nachbarland.
Bei den Frauen hat China schon fast traditionell eine Vormachtstellung eingenommen. Zwischen 1998 und 2004 wurde die Olympiade allein viermal hintereinander gewonnen! Danach gab es eine Bronze- und zuletzt drei Silbermedaillen. Nur in Dresden 2008 erreichten die Asiatinnen keinen Platz unter den ersten drei.
Zuletzt drei Silbermedaillen für China heißt aber auch, das jemand besser war. Nämlich Russland. Sowohl in Chanty-Mansijsk 2010, als auch in Istanbul 2012 und auch in Tromsø 2014. Russland weist wie die Ukraine einen Elo-Schnitt von knapp über 2.500 aus. Deutlich weniger als die 2.560 von China, aber eine hohe Elozahl garantiert noch nicht, das die Gegnerin freiwillig die Hand zur Gratulation herüberreicht.
Neben den Spielern, Trainern und Kapitänen, die wir bereits namentlich auf unserer Turnierseite nennen, und den im Einleitungstext genannten Funktionären, gibt es noch einige weitere Landsleute die zwei Wochen oder weniger in Baku verweilen.
Die deutsche Schiedsrichtergilde wird in Aserbaidschan durch DSB-Vizepräsident Klaus Deventer und Dr. Jürgen Klüners vertreten. Beide sind Internationale Schiedsrichter und gehören zum regelkundigen Personalaufgebot der FIDE für das Turnier.
FM Oliver Müller aus Bremen gehört zum Aufgebot der International Braille Chess Association (IBCA).
GM Michael Prusikin ist als Trainer der eidgenössischen Nationalmannschaften in Baku, wie man in einem Interview mit Yannick Pelletier bei ChessBase lesen kann. Kapitäne der Schweiz sind IM Martin Ballmann und bei den Frauen FM Jörg Grünenwald.
Lesenswert sind nicht nur die Aufstellungen einiger Länder- und Auswahlmannschaften, sondern auch die Namen der dazugehörenden Kapitäne. Da findet sich manch Prominenter, der eine Gruppe von unbekannten und teilweise deutlich schwächeren Spielern betreut.
Im Frauenturnier fanden wir folgende bemerkenswerte Personalien:
Unsere Spieler erwartet mit Baku eine lebhafte, 2 Millionen Einwohner zählende Kultur- und Wirtschaftsmetropole am Kaspischen Meer. Sie beheimatet etliche Universitäten, die Altstadt, mit zahlreichen Paläste, Moscheen und Festungen gehört dem UNESCO-Welterbe an.
Gerade in den letzten 10 Jahren hat sich in Baku viel getan; das Stadtbild prägen mittlerweile etliche riesige und sehr moderne Bauten, darunter auch die Crystal Hall, Venue unserer Olympiade. Diese 20.000 Zuschauer fassende Veranstaltungsarena wurde 2012 fertiggestellt und war im selben Jahr Veranstaltungsort des 57. Eurovision Song Contest.
Apropos was unsere Spieler erwartet: Vor Eintritt in den Spielsaal wird Jeder(!) per Röntgenrahmen, den er passieren muss, nach "Mogelmaterial" gescannt. Weiterhin werden alle Handys, Armbanduhren und Stifte eingesackt, um möglichem Betrug vorzubeugen. Nach Spielbeendigung kann man sich seine 7 Sachen natürlich wieder aushändigen lassen.
Baku bewegt sich in den nächsten 2 Wochen bei einem Sonne-Wolken-Mix und knapp 30 Grad; ein tolles Ausflugswetter, das man nutzen sollte, denn es gibt viel zu sehen - auch schachlich, denn die Stadt ist im Schachfieber: Schachmaskottchen, Schachpantomimen, Schachbusse, Lebendschachfiguren, Schachkreidezeichnungen etc.
Frank Hoppe/Louisa Nitsche
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 21279