22. Oktober 2024
Das Thema klingt spannend. Bundesligist SC Viernheim lädt ein, gemeinsam mit dem Verband der praktischen Sportpsychologie am Sonntag, 27. Oktober - zum „Tag der Sportpsychologie im Schach“. Es biete sich „die einzigartige Gelegenheit, tiefer in die mentalen Aspekte des Schachsports einzutauchen“. Psychologische Strategien zur Steigerung der Konzentration, Nervenstärke, Entscheidungstechniken – aber auch um ein Thema, das Professor Dr. Sabine Vollstädt-Klein beleuchtet: „Warum Schach gut fürs Gehirn ist und hilfreich bei Sucht sein kann.“ Wer dabei sein will: Die Veranstaltung beginnt um 9.15 Uhr im Viernheimer Bürgerhaus.
Was sich in der Theorie interessant anhört, füllt Viktor Anderson im Gespräch mit Matthias Wolf vom DSB-Team Öffentlichkeitsarbeit mit Leben. Der Münchner, langjähriger Vorsitzender des MSA Zugzwang 1982 aus München und bis vor zwei Jahren Seniorenreferent des Bayerischen Schachverbandes, spricht offen über seine Suchterkrankung. Und vor allem davon, wie Schach ihm geholfen hat, vom Alkohol los zu kommen. Mittlerweile ist er seit über 30 Jahren trockener Alkoholiker. Eine Geschichte, die unter die Haut geht und anderen Betroffenen Mut machen soll, wie Viktor Anderson sagt: „Dass ich heute nicht mehr trinke, daran hat Schach einen sehr großen Anteil. Das Spiel hat mein Leben wieder strukturiert.“
Viktor Anderson war durch die Familie vorgeprägt. Die Mutter Alkoholikerin, der Vater – von dem er das Schachspiel lernte – trank zwar nicht, sah aber machtlos zu. Co-Abhängigkeit. Er musste auch erleben, wie der damals 13-jährige Viktor zur Flasche griff. Alkohol war in seinem Alltag so präsent, dass es einfach passierte. Und immer exzessiver wurde. In seinem Berufsleben, als Außendienstmitarbeiter für eine Wirtschaftsprüfungskanzlei, war Alkoholkonsum – schlicht Alltag. Anderson: „Was macht ein Außendienstler abends im Hotel, wenn er mit Kollegen 200 Tage im Jahr unterwegs ist? Er säuft.“ Der Pegel war immer hoch, der Chef duldete es. „Abgesehen davon: Alkoholiker können perfekt lügen und ihre Umwelt lange täuschen“, so Anderson.
Mit Mitte 30 trank Viktor Anderson bis zu eineinhalb Kästen Bier täglich, dazu kamen ein bis eineinhalb Leiter Schnaps. Er wog fast 120 Kilo. Kaum zu glauben, wenn man den Münchner mit seinen 75 Kilo heute sieht. „Ich war jeden Tag sturzhagelvoll“, sagt er. Auch noch, als er nicht mehr im Außendienst, sondern als Steuerberater arbeitete. Tagsüber war er betrunken, seine Arbeit erledigte er oft nachts. „Ich hatte keinen normalen Rhythmus mehr in meinem Leben.“
Schach hatte er nach seiner Zeit in der Schulschachmannschaft aus den Augen verloren – bis ihn ein Bekannter zum Spielabend zu MSA Zugzwang mitnahm. Das war in den 1990er Jahren. Zu einem Zeitpunkt, als die Alkoholsucht schon dafür gesorgt hatte, dass er kaum noch soziale Kontakte pflegte und finanziell abgestürzt war. Bis heute, sagt er, habe er aus dieser Zeit hohe Schulden, die er Zeit seines Lebens nicht mehr abtragen werde.
Die neuen Schachfreunde im Verein, denen er von seiner Alkoholsucht erzählte, nahmen ihn mit offenen Armen auf. „Ich habe das einmal erzählt, dann war das kein Thema mehr.“ Es gab ganz einfache Regeln im Verein, die ihm aber halfen, von der Sucht loszukommen. Am Brett herrschte Alkoholverbot. „Trinken war im Verein, wenn gespielt wurde, regelrecht verpönt.“ Und er hatte den Ehrgeiz, niemals betrunken zum Spielabend zu erscheinen, oder wenn er sich mit Freunden privat zum Schachspielen traf. „Ich weiß, dass das nicht so viele schaffen, weil es auch lebensgefährlich sein kann“, sagt er heute, „aber mir ist es gelungen, den Alkohol erst abrupt deutlich zu reduzieren – und dann ganz loszulassen.“ Ein trockener Entzug, ohne klinische Therapie. „Es hat wehgetan, am Anfang war es sehr schmerzvoll, denn der Körper giert ja nach Alkohol. Überstanden habe ich diese schwere Zeit nur durch den Zuspruch meiner Schachfreunde.“ Das Erfolgsrezept? Ganz einfach: „Mit Alkohol am Brett funktionierst Du nicht. Ich musste aufhören zu saufen, um besser spielen zu können.“
Er sagt heute, das sei „keine Frage des Willens, sondern des Leidens“ gewesen. "Der Leidensdruck war stärker geworden als der Suchtdruck." Es sei ihm so schlecht gegangen mit seiner Sucht, dass er gespürt habe: Es geht dem Ende zu, wenn er so weiter macht. Und vor allem: Er würde das Schachspiel und die Freunde wieder verlieren. „Ich wähle gerne das Bild vom Fahrstuhl. Der fährt aber für Alkoholiker nur nach unten. Du trinkst und trinkst, es geht immer tiefer. Irgendwann, in einem nüchternen Moment, drückst Du den Stoppknopf.“ Pause. „Und dann musst mühsam die Treppen wieder nach oben steigen.“
Apropos Treppen. Viktor Anderson ist 79 Jahre alt. Die Beine wollen nicht mehr wie früher. Mit dem Rollator zum Spielabend – das ist mühsam. Er hat einen Antrag bei der Pflegeversicherung gestellt, hofft, dass er dann die Mittel bekommt, um einen Fahrdienst zum Spiellokal in Anspruch nehmen zu dürfen. Damit wieder mehr Regelmäßigkeit entsteht. Online Schach zu spielen, das ist nicht sein Ding. Er beschäftigt sich aktuell, bis das mit dem Fahrdienst geklärt ist, oder die Beine wieder mitmachen, sehr viel mit Schachliteratur. Und der Alkohol? Ja, er nippe beim Treffen mit Freunden tatsächlich auch mal am Bierglas, aber mehr nicht. „Ich weiß, wenn ich einmal wieder besoffen wäre, wäre es aus. Dann wäre ich verloren.“
Der Fall Viktor Anderson – er passe nur teilweise in das Muster der meisten Fälle, die sie erforscht habe, sagt Professor Sabine Vollstädt-Klein, die selbst auch Turnier- und Vereinsspielerin ist, für den SK Chaos Mannheim sogar mal in der Frauenbundesliga spielte. „Wir wenden in unseren Studien Schach für das kognitive Training an“, sagt sie zur ihrer schachbasierten Therapie, „man gewinnt durch das Spiel mehr Kontrolle über sein Handeln.“ Erste Analysen zur Therapie seien vielversprechend, bei Rauchern und Alkoholabhängigen würden durch das schachbasierte kognitive Training "positive Effekte auf den Therapieerfolg, die Abstinenz, auf die Kognition und auf Gehirn-Netzwerke" festgestellt. Der Bericht von Viktor Anderson überrasche sie nicht. „Das ist oft ein Nebeneffekt: Menschen bekommen durch das Schachspiel eine Belohnung“, so die Wissenschaftlerin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, „eine Belohnung, die man sich früher durch das Trinken erhoffte. So kann Schach auch präventiv gegen einen Rückfall helfen.“ Schach als Ersatzsucht? „Ich würde eher sagen: Schach ist ein Komplettpaket für mehr Selbstbewusstsein und Spaß.“ Soll heißen: Wer Schach spielt und den Sport lebt, braucht den Griff zur Flasche nicht. Frag nach bei Viktor Anderson. (mw)
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 36164