13. Dezember 2011
Es gibt Ereignisse, die treten niemals ein, aber und wenn sie dann tatsächlich doch passieren, dann beginnt das große Staunen, man ist ungläubig und fragt sich: Ist das denn wirklich wahr?
Ahnen Sie schon, um wenn es geht? Seinetwegen ließ der berühmte Pianist und Mozart-Interpret Friedrich Gulda (1930 bis 2000) ein Konzert platzen, um beim Schach-WM-Viertelfinale 1980 in Velden zu kiebitzen, weil seine Partien so aufregend seien. Ob das Publikum im Wiener Konzerthaus diese Entschuldigung akzeptiert hat, ist nicht überliefert, leben musste es wohl oder übel mit dieser Entscheidung...
In das hier zu lüftende Geheimnis war ich allerdings spätestens seit dem Sommer eingeweiht, schließlich ging es um die Ab- und Ummeldung einer Schachlegende, die ich einst zum Bundesliga-Zweitligisten SV Glück Auf Rüdersdorf für die Saison 2006/07 verpflichten konnte. Damals wie heute war das zunächst erst einmal eine öffentlichkeitswirksame Aktion. Denn die Frage lautetet ja sofort: Ja wann spielt er denn nun wirklich?
Diesmal ist es der SV Lingen, der Viktor K. quasi aus dem Hut zaubert. In der Herren Bezirksliga-Mannschaft soll er an Brett 1 spielen und die Jugendarbeit unterstützen.
Ich habe Viktor Lwowitsch, dessen im Jahre 2004 erschienene Biografie „Mein Leben für das Schach“ ich als Lektor betreuen durfte, nicht gefragt, warum er sich das antut, denke aber, dass das für den inzwischen 80-Jährigen genau das überzeugendste Argument sein wird, Denn was bitte schön, soll eine der größten Persönlichkeiten der Schachgeschichte sonst iim Schachverein der größten Stadt des Emslandes?
„Zu meinem Credo gehört es heute, die gesammelten Erfahrungen an die Jugend weiterzugeben . Gerade die jungen Schachspieler möchte ich deshalb ermutigen: seid kompromisslos, ehrgeizig, voller Kampfgeist! Diese Eigenschaften in Verbindung mit Phantasie sind – das zeigen meine persönlichen Erfahrungen – der eigentliche Schlüssel zum Erfolg!“
Wie ernst Viktor Kortschnoi diesen Auftrag immer genommen hat und nimmt, bewies er am ersten Februar-Wochenende im Jahre 2007 in Vier-Sterne-Hotel „Flora“ in Fredersdorf - das liegt kurz hinter der östlichen Berliner Stadtgrenze. Dass er damals 30 Jahren nach seiner ersten Bundesligapartie für die SG Porz nun für „seinen“ SV Glück Auf Rüdersdorf an Brett 1 im Match gegen Tabellenführer SK Zehlendorf aktiv war und den U16-Jugendweltmeister von 2006 Borki Predajovic schlug, war sicherlich für sein Selbstwertgefühl nicht ganz unwichtig wichtig. Der bekannte Berliner Schachjournalist Harald Fietz schilderte dieses besondere schachliche Ereignis ein seinem Beitrag für das Schach Magazin 64 (Heft 03/2007) wie folgt:
„In der Hitze des Gefechts agierte Kortschnoi vorbildlich: Vier Stunden unermüdlich am Brett Varianten kalkulierend, seinen Gegner die Präsenz unbändigen Siegeswillens spüren lassend und dann mit Vehemenz die Entscheidung vollstreckend...“
Zum ganz besonderen Ereignis wurde jedoch drei ambitionierte Spieler, darunter der deutsche U18-Meister von 2005 Stefan Frübing, tags darauf das Schachtraining mit Viktor Kortschnoi. Wobei er dabei seine beiden wichtigsten Maxime verriet:
„Ich bin in der Analyse immer en wenig verrückt“, lautete eine. „Mit gefällt Schach nicht wegen der Regel, sondern wegen der Ausnahme“, brachte er mit dem Verweis auf eine jüngst gegen Tiwjakow gexpielte Partie an. „Da habe ich einen Springer auf b8 geschlagen, und die Leute meinten, wie kann er eine unentwickelte Figur abtauschen. Aber ich bekam danach eine offene Linie.“
Ich bin ganz sicher, das diese vier Stunden für das Trio und den Augen- und Ohrenzeugen Harald Fietz zu den wichtigsten Lektionen in ihrem Schachleben gehört haben werden.
Es sei angemerkt, dass seine Frau Petra diese Trainingssession mehrmals abbrechen wollte, weil am Abend noch ein schweres Simultan auf ihren Mann wartete. Ich muss nicht betonen, dass das vergebliche Liebesmüh für sie war...
Der Homepage des SV Lingen (www.sv-lingen.de) ist zu entnehmen, dass die Verpflichtung von Viktor Kortschnoi und dazu von Großmeister Lev Gutman ein generationsübergreifendes Projekt sein soll. „Amateure lernen von Profis – Erfahrung trifft Unbekümmertheit – Jung und alt gemeinsam“ – diese Losungen sind tatsächlich beim Schachverein Lingen 1959 nicht nur Programm, sondern Realität. An den Brettern 3, 4 7 und 8 gehören mit Thorben Koop, Timo Oehne, Jannik Bach und Nils Vonhoff vier Spieler der U14-Mannschaft zum Stammaufgebot. Und die zählt bei den Deutschen Vereinsmannschafts-Meisterschaften bei den Jungen in dieser Altersklasse. Die vom 26. bis 30, Dezember in Lingen stattfinden, zum Favoritenkreis.
Spielen wird der sechsfache Olympiasieger Viktor Kortschnoi für seinen neuen Verein in jedem Fall - am Samstag in der Bezirksliga Niedersachsen gegen dem SV Bad Essen, und am Sonntag gegen den Oberligisten SK Nordhorn Blanke im Viererpokal. Um möglichst vielen interessierten Schachspielern die Chance zu geben, die beiden Großmeister live spielen zu sehen, wurden die beiden Begegnungen extra in die Mensa des Lingener Gymnasiums Georgianum verlegt.
Bevor die beiden neuen Spieler jedoch erstmals für ihren Verein am Brett aktiv sind, wird die Stadt Lingen am Samstag um 11 Uhr im Rathaus einen Empfang geben. Danach wird das erwähnte Nachwuchsprojekt bei einem Pressegespräch im Rathaussitzungssaal vorgestellt (Infos unter www.u14-lingen.de) .
Ehre, wem Ehre gebührt, sagt man. Das gilt sicherlich im besonderem Maße für Viktor Kortschnoi, der immer noch in seinen Partien und auch abseits des Schachbretts eine der größten Wahrheitssucher ist...
Ach ja, warum sich Viktor K. nun auch noch Lingen „antut“? Meine Antwort ist höchst einfach: Er hat sein Leben dem Schach gewidmet, dass er auch als alter und weiser Mann nach wie vor unbändig liebt...
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 169