30. Juni 2016
Die Schachwelt, besonders in Berlin und Brandenburg, trauert. Mit Werner Reichenbach hat eine Schachlegende die Welt verlassen, der mit seinem Wesen und seinem Humor, wie kaum ein Anderer sich nicht nur Freunde machte. Gestern verstarb er "nach monatelangen Koma und Wachkoma, trotz aufopfernder Pflege in der Median-Klinik in Berlin-Gatow" wie mir sein enger Freund und Schachpartner Gerhard Krusemark schrieb. Krusemark lernte Werner Reichenbach 1972 wenige Monate nach seiner Übersiedlung von der DDR nach Westberlin kennen.
Daß Werner einst aus der DDR freigekauft wurde, wußten zumindestens seine älteren Weggefährten von der SG Weißensee. Seinen einstigen Vereinskameraden Günter Ahlberg traf er nach dem Mauerfall wieder. Und Werner kam für einige Jahre wieder zurück nach Weißensee in den Ostteil der Hauptstadt und spielte für seinen alten Verein.
Wie Werner Reichenbach überhaupt nach dem Mauerbau in den Westen kam, erzählte er 2011 während der Berliner Seniorenmeisterschaft Dagobert Kohlmeyer:
Es ist an der Zeit, den sechsfachen Berliner Seniorenmeister etwas ausführlicher zu würdigen. Wohl keiner von uns liebt Schach so wie Werner Reichenbach. Seit frühester Jugend betreibt der fast 75-jährige FIDE-Meister das Spiel der Könige mit großer Leidenschaft. Schon 1954 spielte Werner im Finale der DDR-Jugendmeisterschaft in Schkopau (Sieger Sieghart Dittmann), wo er den 3. Platz belegte. In späteren Jahren legte Werner sich dann jedoch mit den DDR-Oberen an, saß wegen Beleidigung von SED-Chef Walter Ulbricht im Gefängnis und wurde schließlich für 40 000 DM von der Bundesrepublik freigekauft. "Es lief damals über das Büro von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel", erinnert sich Werner. Nach seiner Ausreise wurde er in Westberlin sesshaft und gewann dort schnell alle möglichen Titel. So wurde er Berliner Meister, war sechsmal Pokalsieger und auch sechsmal Blitzmeister der Stadt. Die Sechs scheint Werners Glückszahl zu sein. Auch die deutsche Pokalmeisterschaft hat er schon gewonnen.
Highlight in Reichenbachs langer Schachkarriere war ein Blitzmatch gegen Viktor Kortschnoi in Westberlin. Sponsor war seinerzeit ein bekannter Restaurant-Besitzer. "Wir spielten in 'Joes Bierhaus' am Theodor-Heuss-Platz. Um uns stand eine riesige Traube von Kiebitzen. Angesetzt waren acht Partien. Sie sagten zu mir, du holst nicht mal einen halben Punkt. Ich gewann die ersten beiden Spiele, dann holte Kortschnoi auf. Der Showkampf endete 4,5:3,5 für ihn. Viktor Kortschnoi hatte damals gerade seinen ersten WM-Kampf mit Karpow hinter sich. Ich schenkte meinem Gegner einen Berliner Bären und seiner Frau einen Kasten Konfekt."
Auch andere Große der Zunft hat Werner das Fürchten gelehrt. So schlug er Wolfgang Uhlmann als Schwarzer mit dem Budapester Gambit. Bei der Senioren-WM 1997 fegte er keinen Geringeren als Großmeister Wladimir Bagirow vom Brett.
Ein spätes Glück fand Werner Reichenbach in seiner Lebensgefährtin Christiane. Leider verstarb sie vor drei Jahren, worauf er erst einmal in ein tiefes Loch fiel. "Die Trauer hält bis heute an" sagt Werner. "Zum Glück bleibt mir noch das Schach. Es ist die Liebe meines Lebens."
Dagobert Kohlmeyer
Wann ich Werner persönlich kennenlernte, weiß ich gar nicht mehr so genau. Wir hatten in den ersten Jahren nur losen Kontakt, meistens ging es wohl um Wertungszahlen. Meinen Nachnamen konnte er sich anfangs kaum merken, mit dem Vornamen haperte es noch oft bis zu unseren letzten Begegnungen. Aus "Frank" wurde oft "Manfred". Nur das Siezen legte er irgendwann ab, obwohl er gelegentlich vergaß, das wir uns auf's Du geeinigt hatten.
Den ersten engeren Kontakt gab es, als es nicht nur um seine DWZ ging. Er hatte sich irgendwann einen gebrauchten Computer zugelegt - ein Geschenk, denn seine kleine Rente erlaubte keine großen Sprünge. Jemand hatte ihm erzählt, das ich ein ausgesprochener Experte im Umgang mit Computern wäre: "Wenn ich Dir nicht helfen kann, wende Dich an Frank Hoppe". Irgendwann kam dann der Tag, mein Telefon klingelte und am anderen Ende der Leitung war Werner. Geduldig hörte ich ihm zu - wobei ja bei Werner sowieso nichts Anderes möglich war. Von 60 Minuten gehörten ihm mindestens 50 Minuten. Ich kam kaum zu Wort. Zum Glück konnte ich wenigstens ungestört währenddessen mit der Fernwartungssoftware seinen PC wieder zum Laufen bringen.
Die Telefonate während der Fernwartungen liefen oft ähnlich ab. Während ich immer wieder unnütze Toolbars und ähnliche Programme deinstallierte, bestritt Werner vehement so etwas je installiert zu haben. Irgendwann gab er dann aber doch zu, wieder ein paar schöne Schriftarten gefunden zu haben (Werner war Schriftsetzer von Beruf). Die (unbewußte) Installation von den anderen Programmen wies er aber trotzdem weit von sich. Seine "Gegenargumente" gingen mir bei einem Telefonat dann einmal so auf die Nerven, das ich ihn schon fast anschrie und dann den Hörer aufknallte. Wochenlang herrschte Funkstille zwischen uns. Doch auch diese Phase ging vorüber. Als wenn nichts gewesen wäre, half ich ihm weiter bei seinen Computerproblemen. Mehrmals besuchte ich ihn in seiner Wohnung um das PC-Problem direkt vor Ort zu begutachten. Viel Platz hatte er nicht auf seinen Handvoll Quadratmetern im Paul-Fleischmann-Haus (Slogan: "Wohnen mit Hostel-Service") in Berlin-Wedding. Daß er hier seit Jahrzehnten "wohnte", konnte ich gar nicht richtig glauben. Sehr wenig Wohnung für viel Miete.
Trotzdem von der Rente wenig übrig blieb, lud Werner alljährlich seine engsten Freunde zu seiner Geburtstagsfeier ein. Ich war ein- oder zweimal dabei, mußte aber wegen meines Jobs die Einladung auch oft absagen.Im Gegenzug besuchte er mich auf meinen wechselnden Arbeitsstellen und brachte mir Kuchen, Bockwurst, Cola und manchmal auch einen Geldschein mit, um sich für die stundenlangen Hilfen wegen seines Computers zu bedanken.
Die Feier zu seinem 80. Geburtstag am 24. April 2016 hatte er sicher schon vorbereitet, doch dann verschlechterte sich sein Gesundheitszustand und er wurde in das Krankenhaus eingeliefert. Ende März meldete sein neuer Verein über die Website des Berliner Schachverbandes "Er befindet sich auf dem Wege der Besserung" und gab Adresse und Besuchsmöglichkeiten bekannt. Da ich selbst durch einen Bandscheibenvorfall gehandicapt war, versäumte ich einen Besuch. Das macht mich heute unendlich traurig, ihn nicht noch einmal wiedergesehen zu haben.
1974 war Werner neben Ralph Mallée und Peter Ostermeyer der letzte Spieler, der vom DSB die Auszeichnung "Nationaler Meister des Deutschen Schachbundes" erhielt. Nachdem am 1. Januar 1952 en bloc gleich 34 Spieler diesen Titel erhielten, wurden in den Folgejahren weitere 37 Spieler ausgezeichnet, die vordere Plätze bei BRD-Meisterschaften erreichten.
1975 wurde Werner Reichenbach in die westdeutsche Auswahlmannschaft für das Nordische Länderturnier in Hindas (Schweden) berufen. Gemeinsam mit Manfred Christoph, Manfred Hermann, Uwe Kunsztowicz, Klaus Wockenfuß und Gisela Fischdick vertrat er die deutschen Farben in Skandinavien. Am vierten Brett erreichte er zwei Siege und zwei Unentschieden bei nur einer Niederlage. Diese erlitt Werner prompt bei seinem Debüt am 21. September 1975, als Deutschland beim 2½:3½ gegen Finnland die einzige Niederlage kassierte. Der Schaden hielt sich in Grenzen, konnte Deutschland am Ende doch das Turnier trotzdem gewinnen.
Nachfolgend alle fünf Partien von Werner Reichenbach:
Einen seiner größten Wünsche konnte er sich nicht mehr erfüllen: Senioren-Weltmeister!
1997 unternahm er in Bad Wildbad den ersten Anlauf auf den Titel. Mit 7½ aus 11 blieb er eineinhalb Punkte hinter dem Weltmeister Janis Klowans. Der 19. Platz bedeutete auch Platz 6 unter den deutschen Spielern hinter solchen prominenten Namen wie Klaus Darga und Wolfgang Uhlmann.
In der dritten Runde verpaßte Werner an Brett 1 den Ambitionen des erklärten Turnierfavoriten GM Wladimir Bagirow einen gehörigen Dämpfer:
Dr. Helmut Pfleger griff in der "Welt am Sonntag" diese Partie auf, indem er auf den Beitrag von Dagobert Kohlmeyer von der Berliner Seniorenmeisterschaft 2011 aufbaute, der auf der alten Website des Berliner Schachverbandes zu finden ist. Interessant hierbei ist, daß Pfleger eine andere Partie analysiert, eigentlich aber dieselbe meint. Meine Recherchen vertiefe ich hier nicht weiter, weswegen dieses Rätsel erst einmal ungelöst bleibt.
Hier die Bilder von Werner's letztem Meisterschaftsgewinn 2011, leider eben nur von der Berliner Seniorenmeisterschaft:
Zurück zu den Weltmeisterschaften. Nachfolgend alle 7 WM-Teilnahmen von Werner auf einen Blick.
Jahr | Ort | Teilnehmer | Weltmeister | Plazierung Werner |
Plazierung unter den deutschen Spielern |
---|---|---|---|---|---|
1997 | Bad Wildbad Deutschland |
226 | Janis Klowans 9,0/11 |
19. Platz 7,5/11 |
6. Platz |
1998 | Grieskirchen Österreich |
197 | Wladimir Bagirow 8,5/11 |
23. Platz 7,0/11 |
6. Platz |
1999 | Gladenbach Deutschland |
192 | Janis Klowans 9,0/11 |
25. Platz 7,0/11 |
6. Platz |
2000 | Rowy Polen |
114 | Oleg Tschernikow 8,5/11 |
26. Platz 6,5/11 |
4. Platz |
2002 | Naumburg Deutschland |
255 | Josef Petkewitsch 8,5/11 |
29. Platz 7,0/11 |
11. Platz |
2003 | Bad Zwischenahn Deutschland |
272 | Juri Schabanow 9,0/11 |
30. Platz 7,0/11 |
9. Platz |
2004 | Halle/Saale Deutschland |
205 | Juri Schabanow 8,5/11 |
24. Platz 7,0/11 |
9. Platz |
Werner's Liebe zum Schach war unendlich groß. Bei jedem Schachturnier war er einer der Ersten, schnappte sich schnell ein Brett und baute irgendeine Stellung auf. Manchmal aus einer eigenen, manchmal aus einer fremden Partie oder manchmal auch eine Studie. Es dauerte nicht lange, das er alleinblieb. Kiebitze verschiedener Spielstärken scharrten sich um ihn. Zugvorschläge aus dem Gremium wurden von Werner mit humorvollen Kommentaren abgebügelt. Allenfalls Meinungen von Internationalen Meistern oder Großmeistern wurden akzeptiert. Einer dieser Meister war oft Robert Rabiega. Der 45-Jährige war der Erste, der auf der Website des Berliner Schachverbandes die schmerzliche Nachricht über Werner's Tod kommentierte:
"Für mich persönlich war Werner die Berliner Schachlegende schlechthin.Von ihm konnte auch ich sehr viel lernen.Ich hoffe er kann im Schachhimmel weiterhin seine Studien zelebrieren.Werner ich denke an dich mit viel Freude und Respekt! Dein großer Bewunderer Robert"
Nachfolgend einige Erinnerungen an Werner's Humor:
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 21096