4. April 2025
Warum reist einer zur Schach-Europameisterschaft? Vermutlich in erster Linie, weil er Titel gewinnen will. Doch GM Raj Tischbierek geht das Turnier grundsätzlicher an: „Ich will herausfinden, ob mir Schachspielen noch Spaß macht.“ Der 62-Jährige hat im vergangenen Jahr seinen Exzelsior-Verlag abgegeben, ist auch nicht mehr Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift Schach. Nun startet er, der sich in den vergangenen Jahren sehr rar gemacht hat im Turnierschach, bei der Mannschafts-Europameisterschaft in Świdnica, Polen - im Teilnehmerfeld 50 plus. Das Team Germany ist top besetzt mit Spielern, die allesamt über 2400 Elopunkte haben: Tischbierek, der ehemalige Bundestrainer GM Uwe Bönsch, GM Frank Holzke und GM Klaus Bischoff. Hinzu kommt noch der erfolgreiche Fernschachspieler Dr. Matthias Kribben. Er hat die Reise des Teams auch gesponsert. Die EM beginnt mit der ersten Runde am morgigen Samstag.
Überhaupt starten in Polen viele sehr starke Spieler - aber aus deutscher Sicht gab es kurz vor Turnierstart eine Enttäuschung. "Ich musste abmelden, wir haben zu viele kranke Spieler", sagte Dr. Gerhard Köhler am Freitag. Er wollte eigentlich in der Altersklasse Ü65 mit dem Team der Lasker Schachstiftung GK in Top-Besetzung antreten - mit dem amtierenden Einzel-Weltmeister GM Rainer Knaak, GM Felix Levin, GM Jakob Meister und GM Sergej Kalinitschew. Nun aber wird es nichts mit der erhofften Revanche gegen die Engländer, die zuletzt bei der WM in Prag um eine Brettlänge vorne waren. Die erste von neun Runden beginnt am 5. April um 15 Uhr. "Schrecklich" nannte es Köhler, dass insgesamt (in beiden Altersklassen) nur 18 Teams an den Start gehen. Für eine Team-EM eine wahrlich äußerst dünne Besetzung. Abe die anreisen, sind zumindest hochmotiviert.
„Natürlich wird das Turnier auch sportlich eine Herausforderung“, sagt Tischbierek, „sowas mache ich nur, wenn ich eine Mannschaft habe, in der ich mich wohlfühle. Mit Mitspielern, mit denen man gemeinsam zum Essen gehen und über Gott und die Welt reden kann.“ Das sei mit seinen langjährigen Schachfreunden gegeben. Mit Bönsch und Kribben reist er bereits gemeinsam im Auto an – mit einem Ziel: „Wenn wir schon mitspielen und zu den Favoriten gehören, dann wollen wir auch was gewinnen. Wir spielen zwar alle nicht mehr so viel, sind aber schon noch ehrgeizig.“ Er werde den Laptop einpacken und sich auf die meistgespielten Eröffnungen jedes Gegners vorbereiten. „Für jemanden, der mal Profi war, ist das eigentlich Usus“, sagt der Berliner, „ich will ja nicht in irgendwelche Fallen tappen.“
Nr. | Mannschaft | Land | EloDS | Gruppe | Spieler |
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1 | Deutschland | 2434 | 50+ | GM Uwe Bönsch (2470), GM Frank Holzke (2412), GM Klaus Bischoff (2425), GM Raj Tischbierek (2427), Matthias Kribben (2060) |
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2 | England 1 | 2427 | 65+ | GM John Nunn (2528), GM Anthony Kosten (2366), GM Glenn Flear (2366), IM Peter Large (2342), GM Jonathan Mestel (2449) |
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3 | England 1 | 2414 | 50+ | GM Michael Adams (2663), GM John Emms (2411), GM Nigel Davies (2309), FM Stephen Dishman (2272), IM Graeme Buckley (2268) |
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4 | SK Zähringen | 2226 | 65+ | IM Christian Maier (2235), FM Arndt Miltner (2236), FM Thomas Raupp (2240), FM Hans-Joachim Vatter (2192), FM Robert Vogel (2117) |
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5 | England 2 | 2160 | 50+ | ||
6 | Sachsen | 2145 | 65+ | Jürgen Kyas (2171), Frank Dietze (2012), FM Gunter Sandner (2243), FM Günther Jahnel (2153), Gennadi Topchij (2012) |
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7 | Belgien KBSB | 2109 | 65+ | ||
8 | England Frauen | 2078 | 50+ | u.a. WIM Ingrid Lauterbach (1999) | |
9 | Niederschlesien | 2073 | 65+ | ||
10 | England 2 | 2067 | 65+ | ||
11 | Finnland | 2059 | 65+ | ||
12 | SV Osnabrück | 2047 | 65+ | Wilfried Beilfuß (2070), Hans-Joachim Wöstmann (2034), Gerhard Müller (2052), Norbert Becker (2032), Torsten Lange (2025) |
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13 | UKS Giecek Radków | 2026 | 50+ | ||
14 | Caissa Polen | 2011 | 50+ | ||
15 | Wales Silures | 1997 | 50+ | ||
16 | Swidnica | 1949 | 50+ | ||
17 | Walbrzych | 1740 | 50+ | ||
18 | Šahovski klub MURSKO SREDIŠCE | 1725 | 65+ |
Für Raj Tischbierek ist es eine Art Rückkehr – mit der Option auf mehr. „Ich habe zuletzt pro Jahr maximal noch ein Turnier gespielt.“ Die Leitung seines Verlages und seine journalistische Tätigkeit haben ihm viele Jahre viel Zeit abverlangt. Nach seinem sportlich erfolgreichsten Jahr 1990, das von den Siegen bei der letzten DDR-Meisterschaft 1990, dem Gewinn der letzten DDR-Fernschachmeisterschaft und der Teilnahme an der Schacholympiade 1990 geprägt war, hatte er 1991 die Zeitschrift Schach als Chefredakteur übernommen.
Im Dezember 2024 zeichnete ihn die Emanuel-Lasker-Gesellschaft mit dem "Viktor" aus. Mit diesem Preis würdigt die Lasker-Gesellschaft jedes Jahr Schach-Persönlichkeiten für ihr Leistungen um den Schachsport und die Schachkultur. „Eine schöne Idee“, sagt Tischbierek, der nicht im Verdacht steht, besonders scharf auf Ehrungen zu sein: „Aber ich bin ein großer Fan von Thomas Weischede, der diese Ehrungen erfunden hat.“ Weischeide ist Vorsitzender und Motor der Emanuel-Lasker-Gesellschaft.
Zum Abschluss seiner Chefredakteurs-Tätigkeit hatte Tischbierek noch einmal eine vielbeachtete Serie über GM Viktor Kortschnoi veröffentlicht - mit viel Meinungsstärke, exklusiven Details, auch über den legendären Streit, die politischen Ränkespiele zwischen dem linientreuen GM Anatoli Karpow und dem antisowjetische Kortschnoi. „Ich hatte in den Neunziger Jahren den Anwalt kennengelernt, der Kortschnoi vertreten hat. Damals erzählte er mir sehr viel, über das ich aber nicht berichten durfte“, so Tischbierek, „dann habe ich ihn 2022 wieder getroffen – und er sagte mir: Jetzt können Sie es schreiben.“
Insgesamt hat er auch weiterhin einen sehr differenzierten Blick. „Die Schachwelt, so wie sie heute existiert, ist nicht mehr meine“, sagt er, mit ein Grund, warum er den Verlag abgegeben habe, „ich bin kein Fan von vielen aktuellen Entwicklungen. Das mögen jetzt manche auf mein Alter schieben – aber es ist halt meine Meinung.“ Ein Beispiel: Er finde durchaus Gefallen an Freestyle, aber der ganze Rummel darum störe ihn gewaltig. „Mancher tut so, als sei das jetzt das neue Schach – und die Zeit des klassischen Schachs vorbei“, sagt er: „Ich sehe aber Freestyle nur als schöne Alternative.“ Und er blicke kritisch auf Freestyle-Mäzen Jan Henric Buettner und sei gespannt, ob das für ihn mehr als nur ein kurzzeitiges Engagement sei: „Im Moment hat einer wie Magnus Carlsen Glück, dass er über Freestyle noch mehr Geld verdienen kann als vorher – weil er keine Lust mehr aufs klassische Schach hat, mit der mühsamen Vorbereitung auf die Partien.“ Außerdem störe ihn, so Tischbierek, dass es in der Schachwelt kaum mehr „freie und unabhängige“ Stimmen gäbe, „weil so viele davon abhängig sind, dass Buettner weiter viel Geld in den Schachsport pumpt“. (mw)
// Archiv: DSB-Nachrichten - Senioren // ID 36354