Anmerkungen zum Titel "Großmeister"

Die Fotos und die Tabelle wurden nachträglich für diesen Nachdruck eingefügt.

Quelle

  • Deutsche Schachzeitung 2/1981, S.66-69

Das hochinteressante Buch "Die Großmeister des Schach" (1974) von H. C. Schonberg beginnt mit der Geschichte des Turniers von St. Petersburg 1914. Dieses Turnier vereinte die bedeutendsten Meister dieser Zeit, mit Ausnahme von Teichmann, Schlechter, Maroczy und Duras, die absagten und Spielmann, der keine Einladung erhalten hatte. Wegen eines eigenartigen Turniermodus mußten nach dem allgemeinen Turnier Dr. Bernstein, Rubinstein, Nimzowitsch, Blackburne, Janowski und Gunsberg vom weiteren Wettbewerb ausscheiden. Im Siegerturnier gewann Lasker vor Capablanca, Aljechin, Dr. Tarrasch und Marshall.

Sankt Petersburg 1914
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Sankt Petersburg 1914

Schonberg schreibt: "Beim Abschlußbankett erklärte der Zar diese fünf Spieler zu Schachgroßmeistern" und berichtet dann weiter: "Kurz vor der Jahrhundertwende scheint der Ausdruck gelegentlich benutzt worden zu sein, und nach St. Petersburg 1914 nannte man die Weltelite stets Großmeister; aber den Spitzenspielern früherer Jahrzehnte war dieser Titel gänzlich unbekannt. Sie galten schlicht als 'Meister'."

Im "Großen Schachlexikon" (1977) von Klaus Lindörfer findet sich für die "Titelverleihung" eine ähnliche Aussage. Lindörfer sagt dann weiter: "... nach dem Turnier von St. Petersburg wurde nur noch derjenige zum Großmeister ernannt, der mindestens einmal den ersten Preis in einem bedeutenden Turnier gewonnen hatte."
An anderer Stelle nennt er aber Teichmann "dt. Großmeister" (Teichmann hatte in St. Petersburg nicht teilgenommen) und bringt beim Stichwort "Rubinstein" ein Bild der Teilnehmer des St. Petersburger Turniers von 1914, ohne dies zu erwähnen. In der Legende dazu sagt er: "Akiba Rubinstein mit den Großmeistern Gunsberg, Marshall, Blackburne ..." usw. Leider werden dabei Janowski - auch Burn - vergessen. Aber wie kommen Gunsberg und Blackburne (und auch Teichmann) zum Titel 'Großmeister'? Sie waren ja nicht in der Siegergruppe und ihre Erfolge - wie Teichmann's Siege in "bedeutenden Turnieren" lagen lange vor St. Petersburg 1914.

Der Zar auf einem Gemälde (Ausschnitt) von Earnest Lipgart (1847-1932)

Der treffliche amerikanische Kommentar zu Schonbergs Buch, "some may find fault with this book because it muddles the facts a bit" ("Einige dürfen dieses Buch kritisieren, weil es die Tatsachen ein wenig verdreht" / Webmaster) zeigt, daß es als Geschichtsbuch nicht zu gebrauchen ist. Es ist sehr schwierig, festzustellen, auf wen er sich bei seinen Angaben bezieht. Soweit ich bemerkte, findet sich jedoch ein Hinweis in Frank Marshall's Buch "My fifty years of chess" (1942).
Marshall schreibt dort: "Im Frühjahr des verhängnisvollen Jahres 1914 nahm ich an einem der bemerkenswertesten Schach-Ereignisse teil, welche jemals stattfanden - dem St. Petersburger Internationalen Großmeisterturnier ... Es war das Turnier ... in dem der Zar von Rußland an jeden der fünf Finalisten den Titel Großmeister des Schach's verlieh."

Viel phantasievoller ausgeschmückt erzählt A. Soltis in seinem Buch "The great tournaments and their stories" (1975) die Geschichte vom Turnier in St. Petersburg 1914. Unter der Überschrift "Profession Grandmaster" berichtet er in einem Auszug aus den "Memoiren" von I. O. Sossnitzky, Vize-Präsident des St. Petersburger Schachvereins, 1906-1914, über die Titelverleihung: "... Unser geliebter Führer sagte, daß die fünf Finalisten nun an einem Punkt angelangt sind, an dem sie sich aus der Klasse der übrigen Schachspieler herausheben. Diese Männer, denke ich, daß er gesagt hat, haben nun für unser Spiel so viel erreicht, daß sie einen beruflichen Titel benötigen - Großmeister. Es mag noch viele andere geben, die ebenfalls die Berechtigung für diesen Titel haben, sagte er, aber an Lasker, Capablanca, Aljechin, Tarrasch und Marshall wird man sich immer zurückerinnern als die ersten, die diesen Titel trugen."

v.l. Lasker, Aljechin, Capablanca, Marshall und Tarrasch - aufgenommen St.Petersburg 1914

In der Geschichte des Schachs gibt es seit Jahrhunderten Begebenheiten, um die sich Mythen bildeten und Legenden rankten. Und wer würde es bezweifeln, daß es ausgesprochen dem Schachspiel angemessen ist, daß der Zar persönlich Titel an Schachspieler verlieh, wie er wohl Orden an verdiente Generäle verteilte. Aber wie so oft, wenn schöne Geschichten erzählt werden, findet sich bald jemand, der Wasser in diesen Wein schüttet. Betrachtet man nämlich die zeitgenössischen Berichte über den Turnierverlauf, liegen die Zweifel an dieser schönen Mär geradezu auf der Hand. Schon die Ausschreibung für das Turnier hatte nämlich eine strenge Auswahl unter den Teilnehmern getroffen: "Eingeladen werden Meister, die in großen internationalen Meisterturnieren mindestens einmal an die erste Stelle gelangt sind ..."

Und der treffliche Georg Marco hatte dazu in der "Wiener Schachzeitung" fast ironisch hinzugefügt: "Manches an dem Programm war ungewöhnlich. Zunächst die Beschränkung auf 'Großmeister'. Wer ist aber 'Großmeister'? Die Petersburger Schachgesellschaft definierte: 'Jeder, der mindestens einmal in einem internationalen Meisterturnier den ersten Preis errungen hat.' Diese Definition mußte viele Bedenken erregen; sie ist zu umfassend und trotzdem zu eng."

Und der "Präceptor Germaniae", Dr. S. Tarrasch, schreibt im "Berliner Lokalanzeiger" dazu, daß der St. Petersburger Schachverein zur Teilnahme nur "Notabilitäten der Schacharena" eingeladen habe. Und weiter: "Solcher Großmeister hat es überhaupt bisher nur 24 gegeben und von diesen ist ein Drittel bereits gestorben, nämlich Anderssen, Charusek (sic), Kolisch, Mackenzie, Pillsbury, Steinitz, Tschigorin und Zukertort. Die anderen 16 Spieler aber hat das Komitee sämtlich eingeladen, obwohl sich einige von ihnen wegen hohen Alters oder aus anderen Gründen längst von den Turnieren zurückgezogen haben ... Abgesehen von ihnen (Burn der nur als Berichterstatter am Turnier teilnahm -, Schlechter, Duras, Winawer, Weiß und Maroczy/U. G.) und einem Deutschen (Teichmann/U. G.), sind alle anderen Großmeister da ..."

St. Petersburg: Beilage vom Deutschen Wochenschach vom 31. Mai 1914

Siehe auch www.chesshistory.com.

Auch Spielmann kommentiert in den "Münchener Neuesten Nachrichten" die Zulassungsbeschränkung: "Es wurden nur sogenannte Großmeister zugelassen ... Eine wohl unbegründete Formalität, durch die leider bedeutende Meister ausgeschlossen wurden (Spielmann selbst erhielt keine Einladung/U. G.), von denen sicherlich zu erwarten gewesen wäre, daß sie mehr geleistet hätten als mancher der patentierten Großmeister ..."

So steht also eindeutig fest, daß zum Turnier nur solche Spieler eingeladen wurden, die bereits 'Großmeister' waren, dazu Aljechin und Nimzowitsch als gemeinsame Sieger des Vorturniers. Geht man aber weitere Berichte von damals durch, so die in der "Wiener Schachzeitung" abgedruckten "Stimmen der Presse über das Großmeisterturnier in St. Petersburg", aus "Münchener Neueste Nachrichten", "Münchener Zeitung", "B.Z. am Mittag", "Berliner Tagblatt" und "Bohemia", fällt eines auf: Die Verleihung eines "Großmeistertitels" durch den Zaren wird nicht erwähnt, obwohl das Abschlußbankett und die Preisverteilung ausführlich dargestellt sind.

Auch Bachmann, der gewissenhafte Berichterstatter über alle Schachereignisse, beschreibt in seinem "Schach-Jahrbuch 1914" (I. Teil) das Turnier, berichtet ausführlich über das Abschlußbankett, aber weiß von der "Titelverleihung" durch den Zaren nichts. Es hieße Tarrasch zu unterschätzen, wenn man annehmen würde, er wäre nicht eitel und stolz genug gewesen, über eine "offizielle Verleihung des Großmeistertitels" zu schweigen. Und wenn es ihn nur gewundert hätte, einen Titel - vom Zaren! - verliehen zu bekommen, der ihm längst allgemein zuerkannt war. Er hatte nämlich schon 1907 das "Großmeisterturnier" von Ostende gewonnen. Dort hatte die Ausschreibung u.a. gelautet: "Das Komitee hoffte, einen Kongreß veranstalten zu können, in welchem der Sieger des Großmeisterturniers und der Weltchampion Gelegenheit finden würden, sich zu messen ..., die Veranstaltung eines Kongresses für sechs der Großmeister, welche bisher die größten Erfolge aufzuweisen haben." Marco bemerkte dazu in einer Fußnote, daß "auch der letzte (6.) den Titel 'Großmeister' (behält)".

Pl. Spieler 1 1 2 2 3 3 4 4 5 5 Pkt.
1. Emanuel Lasker x x ½ 1 1 1 1 ½ 1 1 7,0
2. José Raoul Capablanca ½ 0 x x ½ 1 1 0 1 1 5,0
3. Alexander Aljechin 0 0 ½ 0 x x 1 1 1 ½ 4,0
4. Siegbert Tarrasch 0 ½ 0 1 0 0 x x 0 ½ 2,0
5. Frank James Marshall 0 0 0 0 0 ½ 1 ½ x x 2,0
St. Petersburg 1914: Capablanca - Dr. Lasker
www.endgame.nl
St. Petersburg 1914: Capablanca - Dr. Lasker

Aber nicht nur Tarrasch wurde allgemein 'Großmeister' genannt. In der Deutschen Schachzeitung werden 1913 Duras, Spielmann und Capablanca von Schlechter mehrfach mit dem Titel 'Großmeister' benannt. Ebenso finden sich in der Wiener Schachzeitung - z.B. im Jahrgang 1907 - viele 'Großmeister'. So in einem Bericht über das Turnier von Nürnberg 1906: "Immerhin ist das Jahr 1906 für Schlechter dasjenige, das ihn endgültig in die Reihe der Großmeister stellte." Und anläßlich des Turnierberichtes über den IV. Nordischen Schachkongreß (Kopenhagen) wird Maroczy als 'Großmeister' vorgestellt. Und auch Spielmann begrüßte in den "Münchener Neuesten Nachrichten" Marshall nach seinem Siege in Cambridge Springs 1904 mit Freude als 'den neuen Großmeister des königlichen Spiels'.

Der Begriff 'Großmeister' war also schon vor St. Petersburg 1914 bekannt. Er läßt sich noch weiter zurückverfolgen. In der 6. Auflage (1892) von Dufresne's "Lehrbuch des Schachspiels" werden Adolf Anderssen und Louis Paulsen 'Großmeister des deutschen Schachspiels' genannt. Kauders "Extrapost" (eine Wiener Tageszeitung) berichtet in der Ausgabe vom 14. Mai 1882 während des internationalen Turniers, daß die Schachwelt dem abermaligen "Zusammentreffen der Großmeister des edlen Spieles", nämlich Steinitz und Zukertort, mit Spannung entgegensieht. Um 1860 spricht Ernst Kossak in den "Berliner Federzeichnungen" von "hervorragenden Meister(n), gleichsam schottischen Großmeister(n) des Schach" und schon in der "Schachzeitung" von 1856 von "Partieen der Großmeister." Für Spitzenspieler war der Titel 'Großmeister' offenbar gebräuchlich; die Schachwelt hatte sie als solche anerkannt, ohne daß eine offizielle Verleihung notwendig gewesen ist.

Die Organisatoren von St. Petersburg 1914. V.l.n.r. P. P. Saburov, Y. O. Sossnitzky, P. A. Saburov and B. E. Maljutin

Siehe auch www.chesshistory.com.

Ist es nicht geradezu verwunderlich, daß ausgerechnet Marshall wegen seiner typischen "swindles" ("Schwindeleien" / Webmaster) zu seiner Zeit berühmt - sich als einziger der fünf Finalisten an diese "Titelverleihung" erinnert?

Dr. Bernstein, der leider nicht in die Siegergruppe der fünf kam, aber im Turnier von Ostende 1907 mitspielte, hat sich einmal der Frage des Großmeistertitels angenommen. Er schrieb, der Titel sei im Turnier von Ostende 1907 geprägt, aber schon 1895/96 im Turnier von St. Petersburg bekannt gewesen. Bernstein erwähnt - selbstverständlich - nichts von einer gar "offiziellen Verleihung" des Titels in St. Petersburg 1914. Es darf angenommen werden, daß Bernstein dies aus nächster Nähe gewußt hätte. Ich meine, daß das Ereignis der Teilnahme des Zaren und die Titelverleihung am Abschlußbankett ebenso der Erwähnung wert gewesen wäre, wie die Teilnahme von Frau Lasker, der Schriftstellerin Lia Marco, die dort selbstverfaßte Gedichte vortrug.

Vielleicht hat Marshall irgendetwas mißverständlich Formuliertes nur auf seine Weise interpretiert. Während des Turniers fand nämlich eine Aussprache zwischen Vertretern des Deutschen, des Russischen und Britischen Schachbundes und Vertretern der Meister des Turniers statt, wobei u.a. die Frage, wer als internationaler Meister anerkannt werden soll, erörtert wurde. Es mag sein, daß dabei von 'Großmeistern' gesprochen wurde und Marshall, als er 28 Jahre später sein Buch schrieb, davon noch etwas in Erinnerung hatte. Marshall ist auch sonst kein sehr vertrauenswürdiger Zeuge. In dem erwähnten Buch "My Fifty Years of Chess" berichtet er über seine beiden vernichtenden Wettkampf-Niederlagen gegen Tarrasch und Lasker lediglich mit dem Satz: "... hatte ich verschiedene unglückliche Resultate in dieser Zeit."

Und was hat es mit den "Memoiren" von Sossnitzky auf sich? Soltis hat eine hervorragende Geschichte des Turnierverlaufes geschrieben und dazu die "Memoiren" von Sossnitzky, ein Märchen, erfunden. Warum sollte man in dieser kaputten Welt nicht einmal ein Märchen erfinden? In der Königlichen Bibliothek im Haag-Bibliotheca van der Linde-Niemeijeriana und im John G. White Department der Cleveland Public Library sind die "Memoiren" von Sossnitzky nicht vorhanden. Und in Rußland selbst sind sie auch nicht bekannt: "Die Darstellung von Soltis dürfte erfunden sein ... Von einem Buch Sossnitzky's ist den hiesigen Schachhistorikern nichts bekannt," bestätigte Neistadt, der Schachredakteur der Zeitschrift "64".

So bleibt festzustellen, eine offizielle Verleihung des Großmeistertitels durch Zar Nikolaus II. an die fünf Sieger des St. Petersburger Großmeisterturniers hat nicht stattgefunden. Sie wäre - bei der Einladung nur von "Großmeistern" - überflüssig, ja geradezu widersinnig gewesen.

Faksimile - DSZ 2/1981, S.66+67
Faksimile - DSZ 2/1981, S.68+69
Unsolved Chess Mysteries - von Edward Winter

Ulrich Grammel
Historiker aus Heidelberg