"Per aspera ad astra." - So soll der alte Römer den beschwerlichen Weg zu den Sternen bezeichnet haben. Schaut man in der Neuzeit zwei Schachspielern über die Schulter, wenn sie ihre Figuren über die 64 Felder hinweg ziehen, würde man das königliche Spiel nicht unbedingt zu den körperlich anstrengenden Disziplinen zählen. Zeichnet sich diese Tätigkeit doch eher durch Ideen aus, die der Welt der Gedanken vorbehalten sind.
An diesem gängigen Urteil wird Marc Lang am 26. November 2011 rütteln, wenn er sich in einem einzigartigen Weltrekordversuch 46 Gegnern im Blindschach "gegenübersieht" und dabei bis an die Grenzen der körperlichen Physis geht, um nach den Sternen zu greifen. Zusammen mit seinem strategischen Partner, der Astra Tech GmbH, dem FKW Sportservice Wolfermann (Klaus Wolfermann, Speerwurf-Olympiasieger 1972) sowie weiteren hochkarätigen Diskutanten stellte sich der 41jährige Schwabe am 21. Oktober 2011 in Frankfurt am Main den Fragen der Presse.
Weitsichtiger hätte man mit Frankfurt den Ort für eine nicht alltägliche Pressekonferenz wohl kaum auswählen können: Nicht nur, dass sich zwei Tage zuvor die deutsche Bundeskanzlerin mit dem französischen Staatspräsidenten dort besprach, die Mainmetropole fungiert auch als Sitz zahlreicher Bankenhäuser, welche in den Medien mit Schach werben. Trotz dieser medialen Präsenz fristet der Denksport in der öffentlichen Wahrnehmung eher ein Mauerblümchendasein, wenn man auch von einigen spektakulären Aktionen, wie etwa dem Match Mensch gegen Computer in den späten 1990er Jahren, einmal absieht.
An diesem Umstand könnte demnächst vielleicht ein 41jähriger Schwabe etwas ändern, wenn er das praktisch Unmögliche angeht und einen altehrwürdigen Rekord ins Wanken bringt. Seine Passion: das Blindschach. Bei dieser besonderen Disziplin wird eine Partie ohne Ansicht des Brettes aus dem Gedächtnis gespielt. Doch nicht genug: Marc Lang möchte das Kunststück vollbringen, das bisher noch niemandem auf der Welt geglückt ist und gleichzeitig gegen 46 Gegner spielen, die im Gegensatz zu ihm alle Figuren sehen können. Die Zahlenmystik scheint schon mal auf seiner Seite zu sein: 64 ist nicht nur die Zahl der Felder auf einem Schachbrett; 64 Jahre zuvor wurde der zu brechende Rekord von dem polnisch-argentinischen Großmeister Miguel Najdorf aufgestellt. Und nicht zuletzt stellt 46 - die Zahl seiner Gegner - die Umkehrung von 64 dar. Aber auch in praktischer Hinsicht kann Lang auf einen reichen Erfahrungsfundus zurückgreifen. 2010 hatte er höchstpersönlich den bis dato gültigen Europarekord geknackt, indem ermit 35 Gegnern über 23 Stunden ohne Ansicht des Brettes spielte.
Wie auf der Pressekonferenz eingangs alle Diskutanten unisono beipflichteten, stellt sein aktuelles Vorhaben jedoch eine Herausforderung ganz anderer Qualität dar, das den zweifachen Familienvater bis an die Grenzen des sowohl physisch wie psychisch Leistbaren bringt. Auf die Verbindung dieser beiden Ebenen verweist Hartwig Gauder, 1970 Olympiasieger im Gehen. Nur wenn ein Athlet über eine besondere mentale Konstitution verfügt, ist dieser auch imstande, Spitzenleistungen im Sport zu erbringen. Sein persönliches Rezept auf Meisterschaften sei es stets gewesen, fiktive Interviews mit Reportern zu führen. Wie Gauder weiter ausführt, sei ihm einmal nicht nur der Sieg geglückt, er habe kurz nach dem Zieleinlauf einen Reporter düpiert. Nachdem jener ihn gefragt habe, wie es gelaufen sei, lehnte Gauder geistesgegenwärtig eine adäquate Antwort mit dem Hinweis ab, dass er als Geher sonst disqualifiziert worden wäre.
Von den ungeheuren psychischen Belastungen, denen der Schachspieler ausgesetzt ist, weiß in drastischer Weise der ehemalige Weltklassespieler Vlastimil Hort zu berichten, der 1985 ebenfalls einen Rekord im sogenannten Simultanschach, einer Variante freilich mit Ansicht des Brettes, aufstellen durfte. Nach Absolvierung von 636 Partien hatte der tschechisch-deutsche Großmeister, dem Wahnsinn nahe, Schwierigkeiten gehabt, seine Frau zu wiederzuerkennen. So extrem sei es Sabine Krapf zwar nicht ergangen, doch sieht die ehemalige Weltmeisterin im Modernen Fünfkampf und jetzige Abteilungsleiterin des Olympischen Spitzensports im NOK ebenfalls einen Zusammenhang. Als die Belastungen gegen Ende ihres Studiums größer wurden, sei es ihr sehr schwer gefallen, Leistungen im Spitzensport zu bestätigen.
Vor diesem Hintergrund könne umgekehrt die Bedeutung der physischen Konstitution für das Schachspielen garnicht genug gewürdigt werden, wie die moderierende MedizinjournalistinVera Cordes im Gespräch herausarbeitete. Vor die Wahl gestellt, würde Lang immer der körperlichen Fitness den Vorzug vor dem Variantenlernen geben und die Vorbereitung auch schon mal ins Schwimmbad verlegen. In einem Calwer Café dagegen habe, wie der gebürtige Stuttgarter erklärt, seine Leidenschaft vor knapp 20 Jahren seinen Anfang genommen, als er von dem Kellner ermahnt wurde, das Spielen mit dem Vereinskollegen einzustellen, wonach beide zwar die Figuren beiseitelegten, dann aber aus Trotz anfingen blind zu spielen. Als dies überraschend gut funktionierte, sei man nach und nach dazu übergegangen, zwei und mehr Partien parallel zu spielen - sehr zum Leidwesen des sich ärgernden Kellners, der nichts dagegen unternehmen konnte. Hiernach habe Lang Blut geleckt und wollte wissen, wie weit er die Grenze hinausschieben könnte.
Dieser Punkt ist es auch, der Herrn Dr. Jörg Nosek, Geschäftsführer der Astra Tech GmbH, sowie Herrn Dr. Karsten Wagner, Direktor Dental, imponierten. Insofern seien Schach und die Grundsätze ihrer im Bereich der implantologischen Industrie tätigen Unternehmen einander recht ähnlich. Die Kategorien Material, Raum und Zeit finden auch in ihrer Geschäftswelt eine Entsprechung und müssten bei der strategischen Ausrichtung stets mit berücksichtigt werden. Den Standpunkt Horts, es gebe keine Kategorien wie Glück oder Zufall, könne er von seinem Standpunkt daher nur unterstützen, wie Wagner - in der Freizeit selbst ein leidenschaftlicher Schachspieler - resümiert.
Ende November wird Lang, der durch den Weltschachbund mit dem Titel des sogenannten FIDE-Meisters ausgezeichnet ist, in seiner Heimat Sontheim 46 ambitionierten Vereinsspielern gegenüberstehen. Dass er es aber durchaus auch mit einem ehemaligen Weltklassespieler aufnehmen kann, bewies Lang den staunenden Journalisten in einer Blindschachpartie mit Vlastimil Hort. Nach 16 Zügen in einem schwindelerregenden Tempo unterbreitete Hort schließlich ein Remisangebot, welches Lang nach kurzem Zögern in ausgeglichener Stellung annahm.
Nach der Demonstration drehte sich die Diskussion abschließend um die Frage, wie Lang seinen Versuch konkret angeht. Hierfür gebe es verschiedene Strategien, die mit der oben skizzierten gesunden Lebensweise anfangen und sich auch in punkto Nahrungsaufnahme am Spieltag fortsetzen. Ihn beratende Experten haben empfohlen, auf Kohlenhydrate in Form von Müsliriegeln und selbst auf den geliebten Kaffee mit Milch und Zucker zu verzichten. Dafür müsse er dann halt mal mit grünem Tee vorliebnehmen, der eher langfristig anregend ist.
Und natürlich habe er sich auch in schachlicher Hinsicht mit einigen Varianten präpariert, mit denen es ihm möglich ist, in einem frühen Partiestadium eine Entscheidung herbeizuführen. Denn auch bei aller Kondition stehe für ihn die Maxime im Vordergrund, mit den Kräften ökonomisch zu wirtschaften, um mindestens 23½ Punkte aus 46 Partien bzw. möglichen Punkten zu erreichen. Immerhin gilt es, 1380 Züge bei einer durchschnittlichen Zugzahl von 30 pro Partie im Kopf durchzuspielen, wie der gelernte Programmierer vorrechnet. Daneben gebe es noch einige Tricks, die ihm das Memorieren leichter machen. So teile er die Bretter, die in der Abfolge viermal Weiß - einmal Schwarz aufgebaut sind, in einzelne Blöcke ein. Diesen weist er anschließend bestimmte Themen mit dem praktischen Ergebnis zu, dass es in einem schon mal recht ruhig zugehen kann, während in einem anderen eher taktische Verwicklungen auf dem Programm stehen.
Wie die Erfolgsaussichten seiner Gegner erhöht werden könnten, dazu wollte sich Lang trotz einiger Anfragen der anwesenden Journalisten verständlicherweise bedeckt halten, gab aber zumindest zu verstehen, dass es für ihn gefährlich wäre, fast identische Partien zu spielen, da sie ja meist doch entscheidende Nuancen aufwiesen und anders behandelt werden müssen. Auf welche Weise für die nötige Motivation gesorgt werde, wollte die Moderatorin am Ende wissen. "Meine Frau hat mir schon angedroht: Wenn ich versage, muss ich zur Strafe in den Hundezwinger einziehen. Das ist Motivation genug!", gab der sympathische Rekordblindspieler zu verstehen.
Christopher Overbeck
1. Vorsitzender der Main-Vogelsberg-Schachjugend und Referent für Öffentlichkeitsarbeit im Hessischen Schachverband
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