Endstation Woltersdorf

... und auf gerader Strecke Laufschritt
Frank Hoppe
... und auf gerader Strecke Laufschritt

Eigentlich sind meine freien Tage für Arbeiten an diesen Webseiten verplant, doch schon Wochen vorher hatte ich dem einstigen Vereinsgefährten Mario Janik eine Zusage für Sonntag, den 18. März gegeben. Ich hatte mich nämlich Monate zuvor von ihm breitschlagen lassen, in der Saison 2007/08 für seinen Verein Doppelbauer Woltersdorf aufzulaufen. Was lag also näher, als dem neuen Verein just zum vorentscheidenden Spiel der Brandenburger Regionalliga Ost gegen die Schachfreunde Schwedt einen Besuch abzustatten.

In den Tagen vor dem Termin lief meine Vorbereitung auf Hochtouren. Online-Stadtpläne, BVG-Fahrinfo, Vereinsseite und Googlemap waren meine wichtigsten Werkzeuge um erstens Woltersdorf und zweitens das Spiellokal zu finden. Mario selbst war indes ein weniger guter Ratgeber: Meine per ICQ-Chat an ihn gestellte Frage, ob das von mir mittels Google lokalisierte Gebäude das richtige sei, ignorierte er völlig. Stattdessen kam die Antwort, es würde mir gut tun, die paar Kilometer zu laufen. Wo er Recht hat, hat er Recht ...

Aha - ein Bus fährt also auch
Frank Hoppe
Aha - ein Bus fährt also auch

Die Wetterfrösche machten für das Wochenende - und besonders für Sonntag! - eine düstere Vorhersage. Angeblich sollte es den ganzen Tag regnen - in "Strippen". Optimistisch machte ich mich trotzdem auf den Weg durch die halbe Stadt ans südöstliche Ende von Berlin. Das Wetter war am Morgen um kurz nach 8 besser als erwartet und ich konnte mich nahezu trocken Schönhauser Allee in die S-Bahn setzen.

Nach nur zweimal Umsteigen in Ostkreuz und Karlshorst - davon einmal wegen einer Baustelle - kam ich gutgelaunt um 8 Uhr 50 am Bahnhof Erkner an. Nur noch gefühlte 10 Kilometer Fußmarsch lagen vor mir. Da ich nach nur 25 Minuten und etwas durchnäßt das Spiellokal (SportCasino des "Segel-Club-Flakensee") erreichte, müssen es wohl weniger Kilometer gewesen sein ...

Das Dorf Woltersdorf

Hurra, Woltersdorf! Nur noch knappe 500 Meter.

Das kleine Dorf am südöstlichen Stadtrand von Berlin wurde 1319 als Waltersdorf slawika erstmals urkundlich erwähnt. Rund 80 Jahre zuvor hatten sich hier die ersten Bauern und Schiffer in der Nähe des Flakensee angesiedelt. 1550 wurde die berühmte Woltersdorfer Schleuse errichtet, die den Flakensee vom Kalksee trennt. Seit 1913 endet dort eine Straßenbahnlinie der Woltersdorfer Straßenbahn GmbH. Die rund acht Kilometer lange Strecke führt über zehn Stationen zum S-Bahnhof Berlin-Rahnsdorf. Woltersdorf ist die kleinste Gemeinde Deutschlands, die eine eigene Straßenbahn besitzt!

Weitere Sehenswürdigkeiten sind der Aussichtsturm auf dem Kranichsberg mit einer Ausstellung zur Woltersdorfer Filmgeschichte und die Liebesquelle.

Seit der Wende 1989/90 erfreut sich Woltersdorf bei den Berlinern wachsender Beliebtheit und verzeichnet - wie viele andere Vororte - einen starken Bevölkerungszuwachs.

Der Schachklub Woltersdorf

Während meiner Recherchen in alten Schachzeitungen und aus eigenem Wissen konnte ich bisher nichts darüber feststellen, ob es in Woltersdorf bis zum 17. Januar 2003 jemals ein Vereinsleben gab. An jenem Tag war die Geburtsstunde des Schachverein Doppelbauer Woltersdorf - einem Ableger des SV "Glück auf" Rüdersdorf.
Falco Nogatz schrieb dazu in seinem Blog im Januar 2007: "... die ja mittlerweile in der Regionalliga Ost spielen und gerade auf dem Weg zum Durchmarsch in die Landesliga sind. Prominente Neuzugänge wären wohl garantiert ...".

Sport-Casino des Segelclubs Flakensee

Nun, bis zur Landesliga Brandenburg ist es noch ein beschwerlicher Weg. Und sich allein auf prominente Neuzugänge festzulegen, ist sicher der falsche Weg. Gerade in Woltersdorf, wo Kinder- und Familienpolitik an erster Stelle steht, sollte es doch leicht möglich sein, Neuzugänge aus dem Nachwuchsbereich zu rekrutieren und vielleicht wirklich einmal in die Fußstapfen der Rüdersdorfer zu treten.

Das das mit dem Durchmarsch durchaus eintreffen könnte, stellten die Woltersdorfer an meinem Besuchstag unter Beweis. Zu Gast war nämlich der Tabellenführer Schachfreunde Schwedt 2000, ein ebenfalls noch junger Verein mit der 30jährigen Beate Pfau am ersten Brett. Um es vorwegzunehmen: Woltersdorf gewann den Wettkampf mit 5½:2½ und dürfte sich zwei Runden vor Saisonende kaum noch die Butter vom Brot nehmen lassen. Mario Janik war trotzdem auf der Vereins-Homepage noch etwas zurückhaltend: "Nach dem furiosen Sieg gegen den Aufstiegsfavoriten SF Schwedt muss trotz berechtigter Euphorie weiterhin "sauber" gearbeitet werden. Eine schwere Aufgabe steht in der Vorschlußrunde gegen Frankfurt/O. II noch bevor. Erst wenn diese Hürde genommen ist, kann der Sekt kalt gestellt werden."

Doppelbauer Woltersdorf - Sfr. Schwedt 2000

Trotz Bestbesetzung konnte Schwedt mit Beate Pfau am Spitzenbrett die Tabellenführung nicht verteidigen

Schon zu Saisonbeginn fieberten die Woltersdorfer der möglicherweise entscheidenden Begegnung der 7. Runde mit Schwedt entgegen. Die an jedem Brett besser und insgesamt auch ausgeglichener besetzten Schwedter hatten nach sechs Runden auch schon zwei Brettpunkte Vorsprung gegenüber den Randberlinern. Da von einem Sieg für Woltersdorf zu sprechen, wäre wohl zu kühn gewesen, hätte sich der Gastgeber nicht noch kurzfristig eminent verstärkt. Erst wurde der einstige Woltersdorfer Spitzen- und Ex-DDR-Ligaspieler Rolf Horn nachgemeldet, dann erschien mit Michael Altmann noch ein weiterer Brocken auf der Besetzungsliste. Gegen Schwedt sollten auch beide Spieler zum Einsatz kommen und für zwei sichere Punkte sorgen. Die noch fehlenden 2½ Punkte würden dann schon irgendwie an den restlichen sechs Brettern zustande kommen.

Pünktlich um 10 Uhr saßen alle Woltersdorfer bereits an ihren Brettern - nur von Schwedt war noch nichts zu sehen. Mario Janik ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt und stellte mich als bereits angekündigten Neuzugang vor. Kurz darauf trafen auch die weitgereisten Gäste ein.

Mario Janik - immer für einen Spaß zu haben. Eine der wegen der schlechten Beleuchtung zusätzlich aufgebauten Stehlampen stellte er direkt neben sein Brett. Er hatte sogar eine Verlängerungsschnur mitgebracht.

Wie anstrengend Kiebitzen sein kann, bekam ich mit fortschreitender Spieldauer immer mehr zu spüren. Vom langen Stehen schmerzten die Beine, vom Zuschauen der Nacken. Dazu noch das Gefühl, das die Akteure eingeschlafen sind, weil kaum mehr als 10 Züge nach knapp zwei Stunden je Brett geschehen waren. Für mich als Schnellspieler geradezu grausam.

Angesichts des Spieltempos begann ich einige Partien mitzuschreiben. Zuerst nur Brett 1 und 7 - das erste wegen der Spitzenpaarung und das siebte, weil ich an ein kurzes Massaker glaubte, das Rolf Horn mit seinem Gegner veranstalten würde. Obwohl das nicht eintrat, habe ich meine Mitschriften noch um die Bretter 4 und 8 erweitert. Brett 4 gefiel mir wegen des sich ankündigenden Königsangriffs und Acht, weil sich auch Michael Altmann schwerer tat als erwartet.

Nach rund drei Stunden ging es an Brett 4 plötzlich ganz schnell:

Gurack - Seemann nach 14. ... Dc7
Gurack - Seemann nach 14. ... Dc7

Thomas Gurack konnte es sich hier nicht verkneifen, 15. Lh7+ zu spielen - ein Zug, den ich bereits zu Beginn der Analyse madig machte, was Gurack überhaupt nicht einsah. Später war er aber derselben Meinung.
Nach 15. ... Kh8 16. f4 schwächte sich Schwarz mit f6. Auffällig sind jetzt die schwachen weißen Felder im schwarzen Lager - hervorragende Stützpunkte für die weißen Figuren. Besonders g6 ist einladend und es sollte jetzt Lg6 kommen. Doch Weiß entschied sich anders: 17. Dg6. Damit war das Schicksal des Läufers besiegelt:

nach 17. Dg6?? Tf8
nach 17. Dg6?? Tf8

Da sich Weiß jetzt um den Springer kümmern muß, hat der Nachziehende etwas mehr Zeit die weiße Dame mittels Lc8-d7-e8 und ggfs. f6-f5 von der Verteidigung des Lh7 zu "entbinden". Doch Gurack hatte noch einen Pfeil im Köcher: 18. Lg8!? Das Ausrufungszeichen steht für den Damengewinn 18. ... Txg8 19. Sf7+, das Fragezeichen für 18. ... Kxg8 und 0:1.

Der extra "eingeflogene" Mathis Seemann - wahrscheinlich sein einziger Einsatz in dieser Saison - war seiner Favoritenrolle doch noch gerecht geworden und hatte das 1:0 für Schwedt geschossen. Das war wohl auch der Grund, warum an Brett 7 von Schwedter Seite in dieser Stellung ein Friedensangebot kam:

Putzke - Horn nach 14. Sg5
Putzke - Horn nach 14. Sg5

Rolf Horn war von seiner Partiebehandlung mehr als erschüttert. Von 240 DWZ-Punkten Unterschied ist auf dem Brett nichts zu sehen. In der Eröffnung hatte Horn seinen Gegner mit 1. d4 c5 2. d5 e5 überrascht, um von dessen Schlagen 3. dxe6 aus dem Konzept gebracht zu werden. Danach hatte er schlichtweg d7-d5 "vergessen" - und irgendwann war es nicht mehr möglich.

14. ... Txh4. Der einzige Zug der noch einigermaßen geht. 15. Sxh7?! Df4+ 16. Kb1 Dh6. Soweit war alles von Schwarz berechnet worden:

Ist der Springer noch zu retten? Ja!
Ist der Springer noch zu retten? Ja!

17. Sf6! - gxf6 scheitert jetzt an Dg3+. Nach 17. ... Lxf6 gewinnt Weiß mit 18. Txh4 Lxh4 19. Th1 die Figur mit Vorteil zurück. Weiß zog eine Zugumstellung vor. Zu schwer wog der Doppelangriff auf den Turm h1: 17. Txh4 Dxh4 18. Sf6+. Horn versank in langes Nachdenken und zog zur Überraschung aller 18. ... Lxf6??. Die Variante 18. ... gxf6 19. Dxg6 Kf8 20. Se4 behagte ihm garnicht, also gab er lieber das Material gleich zurück - ein Fehler.

19. exf6 Dxf6 20. Se4 (mit Remisangebot) Dg6 21. Sd6 (Diagramm)

Horn spielte jetzt Dxg2?
Horn spielte jetzt Dxg2?

Schwarz will nicht ins leicht schlechter stehende Turmendspiel mittels 21. ... Dxd3 abwickeln. Doch im Nachhinein war die Entscheidung richtig, sich noch einen Bauern zu krallen, denn Weiß tauschte jetzt seinen Bombenspringer gegen den mickrigen Läufer ab. Der Anfang vom Ende.

Wenige Züge später befand man sich im Turmendspiel:

nach 30. ... g4
nach 30. ... g4

Hier kam Rolf Horn zu mir und meinte, jetzt auf Gewinn zu stehen - aus seiner Sicht völlig unverdient nach dem Partieverlauf. Ich war zu dem Zeitpunkt seiner Meinung, doch muß bei genauem Hinsehen gesagt werden, das bei beiderseits bestem Spiel ein Remis unvermeidlich scheint. Die 240 Punkte Unterschied waren aber zu groß, so das Weiß den Widerstand nach 44 Zügen einstellte.

Rolf Horn und Michael Altmann: Mehr gequält als gespielt, aber Vorgaben erfüllt

Der volle Punkt von Horn war aber mitnichten wettkampfentscheidend. Viel überraschender gab es für Woltersdorf ganze Punkte an den Brettern 6 und 1. Schauen wir zum Schluß aufs erste Brett, wo Andreas Papendieck locker Beate Pfau Paroli bot:

Pfau - Papendieck nach 24. Dc2-e2
Pfau - Papendieck nach 24. Dc2-e2

Schwarz hatte zuletzt mittels Tb4-c4 die weiße Dame nach e2 vertrieben. Mit fast jedem Zug behält Papendieck seinen Stellungsvorteil. Er entschied sich für den mit Abstand stärksten: 24. ... Sd4!

Beate Pfau versank in langes Nachdenken. Ihre Stellung ist alles andere als rosig und sie hat die ganze Partie über auch nichts Zählbares dafür getan: Der Damenspringer wurde auf f6 abgetauscht (via b1-c3-e4-f6), der Königsspringer wanderte von g1 nach b1 (via g1-f3-d2-b1), der schwarzfeldrige Läufer erblickte noch nicht das Licht der Welt und die Bauernstruktur um den eigenen König ist alles andere als homogen.

Nach 25. Dd1?? Txc1! gingen bei Weiß die Lichter aus. Wohl mehr aus Frust wurden noch ein paar Züge ausgetauscht.

Br. Doppelbauer Woltersdorf DWZ 5½:2½ Schachfreunde Schwedt 2000 DWZ
1 Andreas Papendieck 1827 1:0 Beate Pfau 1926
2 Mario Janik 1849 ½:½ Ralf Werner 1896
3 Lieven Uckrow 1794 ½:½ Reinhard Haufe 1874
4 Thomas Gurack 1609 0:1 Mathis Seemann 1859
5 Harald Nöske 1602 ½:½ Norbert Mundt 1771
6 Hartmut Oswald 1579 1:0 Wolfgang Kind 1730
7 Rolf Horn 1959 1:0 Jan Putzke 1719
8 Michael Altmann 1980 1:0 Reimar Metzke 1625

Diese + eine weitere Partie nachspielen

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A44

Autor Frank Hoppe

... Jahrgang 1964, ist seit dem 1. Januar 2007 für die Internetpräsenz des Deutschen Schachbundes technisch verantwortlich. Er war außerdem von 2003 bis 2009 Referent der Wertungsdatenbank des DSB und von 1996 bis 2010 DWZ-Referent des Berliner Schachverbandes. Zudem betreut er seit 1996 die Webseiten des Berliner Verbandes.