13. März 2019
Im letzten Jahr feierte die Schachwelt den 150. Geburtstag von Emanuel Lasker (1868-1941) mit Veranstaltungen über alle zwölf Monate und alle Bundesländer verteilt. Das Jahr 2018 wurde zum Lasker-Jahr ernannt und der Deutsche Schachbund und die Emanuel Lasker Gesellschaft kooperierten bei ihren Aktivitäten zur Würdigung des einzigen deutschen Schachweltmeisters. Laskers Bedeutung für die Entwicklung des Schachspiels in Deutschland war unermeßlich.
Doch es gab noch einen zweiten herausragenden deutschen Schachmeister der Weltklasse, der fünfzig Jahre vor Emanuel Lasker geboren wurde und im 19. Jahrhundert eine so riesige Bedeutung erlangte, dass ihm zu Ehren 1877 sogar ein großes mehrtägiges Fest in Leipzig veranstaltet wurde. Und es kamen so viele Schachfreunde aus ganz Deutschland in die sächsische Stadt, dass sogar die Gründung eines lange geplanten Allgemeinen Deutschen Schachbundes vollzogen werden konnte. Der Mann, dem damals gehuldigt wurde und der Gründungsmitglied des Bundes war, heißt Adolf Anderssen. Er starb nicht einmal zwei Jahre nach der Gründung - heute vor 140 Jahren, im Alter von nur 60 Jahren.
Die traurige Nachricht über Anderssens Tod prangte auf der Titelseite des Aprilheftes der Deutschen Schachzeitung von 1879. Ein großer Nachruf von Dr. Max Lange (1832-1899) erschien im nächsten Heft über 18 Seiten verteilt. Von seinem Turniersieg in London 1851 bis 1858 und von 1861 bis 1866 galt er als der weltbeste Schachspieler. Nur der US-Amerikaner Paul Morphy (1837-1884) unterbrach die Ära von Anderssen, als er ihn 1858 in einem Zweikampf in Paris mit 8:3 schlug. Morphy zog sich wenige Jahre später vom Schachspiel zurück, womit Anderssen den Ruf als bester Schachspieler zurückerlangte. Bis ihn der Österreicher Wilhelm Steinitz (1836-1900) 1866 in London mit 8:6 besiegen konnte. Fortan betrachtete man Steinitz als Nummer 1 in der Welt, quasi als Weltmeister. Bis zur endgültigen Anerkennung des Titels über einen Zweikampf um die Weltmeisterschaft gegen Johannes Hermann Zukertort (1842-1888) sollten aber noch 20 Jahre vergehen. Da war Anderssen, der Zukertort 1868 mit 8½:3½ besiegt hatte, schon lange tot.
In unserem Beitrag zum 140. Todestag von Adolf Anderssen blicken wir auf zwei Ereignisse aus seinem Leben zurück. Einmal das Schachturnier 1851 in London, das Anderssens Weltruf begründete - und die für ihn angerichtete Feier 1877 in Leipzig zu seinem 50-jährigen Schachjubiläum.
Das internationale Turnier vom 27. Mai bis zum 15. Juli 1851 im St. George's Chess Club am 5 Cavendish Square in London, gilt als das erste internationale Schachturnier der Welt, wo die besten Schachmeister mehrerer Länder aufeinandertrafen. Es begründete zugleich den Ruf von Adolf Anderssen, der nach dem Sieg in London als bester Schachspieler der Welt galt. Und das obwohl neben größtenteils britischen Spielern nur einige Europäer daran teilnahmen.
Ins Leben gerufen und organisiert wurde das Turnier vom stärksten Schachmeister Großbritanniens, Howard Staunton (1810-1874), der bis zu diesem Turnier auch als stärkster Spieler der Welt galt. Die Schachzeitung veröffentlichte 1851 ab Seite 37 die übersetzte Ausschreibung. Danach sollten im allgemeinen Turnier (es gab noch weitere Turniere) bis zu 32 Spieler im K.o.-System in mehreren Partien aufeinandertreffen. Die in der ersten Runde Ausgeschiedenen könnten danach nach Hause fahren, während später Ausgeschiedene noch um Platzierungen kämpfen dürfen.
Am 26. Mai 1851 trafen die inzwischen (nur) 16 Meister im großen Saal des St. George-Club zur Auslosung zum ersten Mal aufeinander. Staunton machte den Vorschlag statt nur drei Partien fünf in der ersten Runde zu spielen. Dies wurde aber abgelehnt, womit es bei der alten Regelung blieb, von drei Partien zwei gewinnen zu müssen. Aus Russland fehlten noch Carl Ferdinand von Jänisch (1813-1872) und Ilja Schumow (1819-1881), die "jeden Augenblick erwartet wurden" [SZ 1851, S. 163]. Für die beiden sprangen vorübergehend, aber letztendlich endgültig, die Engländer Alfred Brodie (1809-1857) und Kapitän Hugh Alexander Kennedy (1809-1878) ein.
Anderssen kannte seinen großen Widersacher von der Insel, Staunton, übrigens nicht persönlich. Sie sahen sich an dem Abend im Londoner Klub das erste Mal. Er und sein Berliner Begleiter Carl Mayet (1810-1868) unterhielten sich gerade mit Bernhard Horwitz (1807-1885; sh. auch Beitrag von Michael Negele), als ihnen Staunton gegenüberstand. Anderssen schreibt dazu in der Schachzeitung (1851, S. 166): "Während wir mit ihm [Horwitz] sprachen, wurden wir einem Herrn von großer Statur mit freundlichen blauen Augen, einer hohen Stirn, einem kleinen zusammengekniffenen Munde vorgestellt, der uns freundlich die Hand drückte, ohne daß wir, in die Unterhaltung mit Horwitz vertieft, viel Notiz von ihm nahmen, bis ich endlich einen der Anwesenden ihn Mr. Staunton anreden hörte. 'Staunton' rief ich aus und gab Mayet einen kräftigen Stoß; der englische Schachheros aber fühlte sich durch meine Überraschung so geschmeichelt, daß er mir nochmals und mit vieler Wärme die Hand drückte." Staunton lud Horwitz, Mayet und Anderssen später in seine Wohnung ein, wo sie "mit Kaffee und Zigarren" bewirtet wurden.
Anderssen bekam es in der ersten Runde ab dem folgenden Tag mit dem 1839 nach Frankreich ausgewanderten deutsch-baltischen Meisterspieler Lionel Kieseritzky (1806-1853) zu tun und besiegte diesen mit 2½:½. Später kam es noch während des Turniers zu freien Partien zwischen den beiden. Eine davon ging als unsterbliche Partie in die Schachgeschichte ein.
Staunton spielte gegen seinen Landsmann Brodie und gewann 2:0. Mayet unterlag dem "Ersatzmann" Kennedy und Horwitz setzte sich gegen den noch sehr jungen Henry Bird (1830-1908) durch.
In der zweiten K.o.-Runde waren vier Siege in sieben Partien erforderlich. Anderssen musste gegen den ungarischen "Matadoren" (Anderssen) Jozsef Szen (1805-1857) spielen. Auch dem Ungarn war Anderssen vorher wohl noch nie begegnet. Er traf ihn in einer "Restauration", wo Szen um Geld spielte. "Ein Kellner zeigte uns Herrn Szen. Mayet redete ihn an; Szen konnte sich jedoch seiner nicht mehr erinnern." [Anderssen in SZ 1851, S. 166]. Gegen Szen gewann Anderssen mit 4:2. Sein deutscher Schachfreund Horwitz, der seit 1845 in England lebte, verlor 2½:4½ gegen Staunton.
Im Halbfinale wurden die beiden großen Kontrahenten Staunton und Anderssen gegeneinander gepaart. Der Deutsche demontierte den bis dahin wohl weltbesten Schachspieler mit 4:1. In den Londoner "Illustrated News" bei dem Staunton Redakteur war, erwies er sich als schlechter Verlierer und trat nach. Er gab an, "indisponiert oder ernsthaft krank" gewesen zu sein. Die Partien seien von Beiden miserabel gespielt worden. "Die erste mochte noch hingehen, die zweite und dritte hatte Staunton unbestreitbar gewonnen, und ganz kopflos kindisch warf er sie weg, die vierte gewann und verlor die fünfte; seine Geistesthätigkeit [sic!] wurde nämlich durch eine gefährliche Beklemmung des Herzens gestört, ja vernichtet! Armer Anderssen! Wenn die Herren Kieseritzky, Szen und Wywil auch Herzweh haben, was bleibt vom Ruhme übrig?" schreibt die Deutsche Schachzeitung und zitiert dabei die Londoner Zeitung. [SZ 1851, S. 267]
Gegen den Engländer Marmaduke Wyvill (1814-1896) gewann Anderssen im Finale mit 4½:2½. Staunton, der im Wettkampf um Platz drei gegen Elijah Williams (1809-1854) unterlag, bezeichnete Wyvill nach dem Turnier als besten Spieler Englands.
Hier die Partien aus dem Wettkampf gegen Staunton:
Noch vor dem Ende des Turniers erhielt Anderssen eine Herausforderung von Staunton zu einem Zweikampf über 21 Partien:
St. Georges-Schach-Club. 12. Juli 1851.
Theurer Herr!
Die 7te Clausel der Gesetze und Regeln des Schachturniers verpflichtet den Gewinner des Hauptpreises sich bereit zu halten, von irgend einem Gegner im Turnier zu einem Match von 100 Pfund Sterling von jeder Seite herausgefordert zu werden. Wie Sie sehr wohl wissen werden, machten mich bedeutendes Unwohlsein und die immerwährende Aufmerksamkeit, die von mir in allen Kleinigkeiten des Congresses verlangt wurde, gänzlich unfähig in den kurzen und schnellen Zweikämpfen mir irgendwie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich bin daher sehr besorgt für eine Gelegenheit, mit Ihnen einen gerecht prüfenden Match zu spielen, und in dieser Absicht benutze ich die oben erwähnte Clausel, Sie zu einem Zweikampf von 21 Partieen um 100 Pfund Sterling von jeder Seite herauszufordern; zu beginnen im St. Georges-Schachclub sobald als särnmtliche Wetten und die Geschäfte des Congresses beendet sein werden. Nach meinem Dafürhalten wird dies um die Mitte des nächsten Monats sein, und die Zwischenzeit wird Ihnen Ruhe geben und mich, hoffe ich, in den Stand setzen, meine Gesundheit wieder herzustellen.
Mit den besten Wünschen, glauben Sie mir, bin ich Ihr aufrichtiger H. Staunton.
Anderssen antwortete umgehend. Beide Briefe können in der SZ 1851, S. 275f. nachgelesen werden.
15. Juli 1851.
Mit Vergnügen nehme ich die Herausforderung, mit Ihnen einen Match von 21 Partieen zu spielen, an, natürlich aber unter Bedingungen, ohne welche ich bei meinen Verhältnissen auf ein solches Unternehmen nicht eingehen könnte. Es wird Ihnen einleuchten, dass, nachdem das Turnier sich über alle Erwartung in die Länge gezogen hat, die Zeit meines ferneren Verbleibens in London sehr gemessen ist, und in der That kann ich meine Abreise nicht über die Mitte des künftigen Monats hinausschieben. Ich nehme daher Ihre Herausforderung an, bestehe aber auf folgende drei Bedingungen:
Dies sind die Bedingungen, an welchen festzuhalten mir die Umstände gebieten, und ich werde ungesäumt das Comite ersuchen, diese Bedingungen zu genehmigen. Ich bin etc.
A. Anderssen.
Zu einem weiteren Duell der Beiden kam es dennoch nicht mehr. Das London-Comité teilte mit, Staunton würde einige Wochen auf dem Land verbringen wollen. Er beabsichtige das Match erst in 3-4 Monaten zu beginnen und Hamburg als Ort des Zusammentreffens vorzuschlagen. Am 9. August 1851 schrieb Anderssen einen weiteren Brief an Staunton und informierte ihn darüber, dass er heute London verlassen werde. Anderssen war auch weiterhin bereit, einen Wettkampf zu spielen und wünschte Staunton baldige Genesung. ["Das Schachturnier zu London im Jahre 1851", Nachdruck von Jens-Erik Rudolph]
Anderssen blieb nach dem Turnier noch einige Zeit in London. Ein nicht unerheblicher Grund war wohl die Einladung des London-Club, der Staunton nicht gerade wohlgesonnen war und sich über Anderssens Turniersieg gefreut hatte. Das am 28. Juli 1851 startende Turnier wurde in der Hoffnung veranstaltet, Anderssen möge den Sieg davontragen. Das tat er auch und wurde nebenbei zum Ehrenmitglied des Klubs ernannt. [SZ 1851, S. 277f]
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland richtete sein Verein, die Berliner Schachgesellschaft, am 18. August "in den festlich geschmückten Räumen des Blumengartens" eine Feier für Anderssen aus. Vom Schachverein aus Potsdam, mit dem die Schachgesellschaft eine Korrespondenzpartie spielte, waren auch Mitglieder anwesend. Aus Magdeburg war Max Lange (1832-1899; sh. auch den Beitrag von Michael Negele) angereist. Rund 70 Gäste huldigten Anderssen mit einem "Er lebe hoch!" [SZ 1851, S. 308f]
Hermann Zwanzig (1837-1897), Kassierer des Leipziger Schachklub "Augustea" und später Generalsekretär des neugegründeten DSB, rief im Januar-Heft der Deutschen Schachzeitung von 1877, zur Jubelfeier für Anderssen auf, der in diesem Jahr sein 50-jähriges Schachjubiläum feierte. Eingeladen waren alle deutschen Schachklubs, um durch Wahlen aus ihrer Mitte ein Komitee zu bilden, welches die weiteren Vorbereitungen übernahm. Unterzeichnet hatten den Aufruf neben Zwanzig noch Rudolf von Gottschall, Carl Göring, Max Lange, Johannes Minckwitz und Constantin Schwede. Von der Gründung eines deutschen Schachbundes war darin noch keine Rede, doch allein durch die langjährigen Bemühungen von Lange und Zwanzig schien so ein Vorhaben diesmal von Erfolg gekrönt. Am 1. März 1877 sollte das Komitee konstituiert werden. Zwanzig: "Ein Anderssen-Jubiläum wird in der Geschichte des deutschen Schachlebens stets als eins der bedeutendsten Ereignisse dastehen." [DSZ 1/1877, S. 22f]
Tatsächlich machte das Vorhaben gute Fortschritte und am 10. April 1877 traf sich das inzwischen bestehende Komitee schon das zweite Mal. Das Programm der Anderssen-Feier wurde dabei im Detail festgelegt und es war so reichhaltig, das alle bisherigen Schachkongresse auf deutschem Boden in den Schatten gestellt werden würden. Losgehen sollte es am Sonntagabend, den 15. Juli mit einer Versammlung im Schützenhaus und einem evtl. Konsultationsspiel. Am Montag und Dienstag und am Donnerstag und Freitag sollten die vier Turniere beginnen bzw. fortgesetzt werden. Im Meisterturnier spielte Anderssen mit. Dazwischen war am Mittwoch, den 18. Juli 1877, das Festessen sowie die Überreichung eines Ehrengeschenkes an Anderssen geplant. Am Abend sollte die Beratung zwecks Konstituierung eines allgemeinen deutschen Schachbundes stattfinden. Spätestens am Sonnabend, den 21. Juli sollte die Anderssen-Feier mit der Preisverteilung an die Sieger enden. [DSZ 4/1877, S. 117]
Am 18. Juli trafen sich um 14 Uhr etwa 50 Teilnehmer der Anderssen-Feier im Trianonsaal des Schützenhauses. Rudolf von Gottschall (1823-1909), Präsident der Schachgesellschaft Augustea, eröffnete die Festlichkeiten mit einem längeren Gedicht, das mit der Zeile "Es lebe Anderssen, des Schachspiels Meister!" endete. Währenddessen wurde die Ehrensäule für den Meister enthüllt:
Die Säule besteht aus schwarzem Marmor und ist von einem breiten Eichenlaubband von Gold und Silber umwunden. Sie ruht auf einem Sockel nebst terrassenförmiger Basis von Serpentinstein. Auf der Säule [und auf einer goldenen Platte] steht die silberne Figur der Caissa, als Attribut das Schachbret haltend und mit der Rechten dem Meister einen goldenen Ehrenkranz bietend. Der Sockel trägt auf der Vorderseite die Widmungsinschrift "Dem deutschen Schachmeister Prof. Dr. Adolph Anderssen zum fünfzigjährigen Schachjubiläum. Seine Freunde und Verehrer.", auf der Rückseite aber ein Diagramm, welches die Endstellung der Partie zeigt, mit welcher Anderssen 1851 seinen Sieg gegen Staunton entschied. Innerhalb einer um das Diagramm geschlungenen Guirlande sind die Daten verschiedener Hauptsiege Anderssen's angebracht (London 1851, London 1862, Baden 1870, Wien 1873, Leipzig 1871, Leipzig 1876).
Anderssen bedankte sich mit einer längeren Rede. Er habe die geplante Jubiläumsfeier anfänglich für einen Scherz gehalten. Daraus sei schließlich bitterer, aber für ihn ein höchst angenehmer Ernst geworden. Auch freue er sich über die gleichzeitig angeregte Idee einer Gründung eines allgemeinen deutschen Schachbundes und empfahl die Stiftung eines solchen auf das Wärmste.
Bei unseren Recherchen zur Anderssen-Feier und zur Gründung des DSB entstand diese Seite und es kam die Frage auf, was aus den Geschenken für Adolf Anderssen geworden ist. Die Ehrensäule war wohl das mit Abstand oppulenteste davon. Und so wie sie in den zeitgenössischen Veröffentlichungen beschrieben wurde, musste sie schon damals sehr wertvoll gewesen sein. Wir befragten unseren Experten für Schachgeschichte und Schachkultur, Dr. Michael Negele (*1957). Er gibt an, dass der Nachlass von Anderssen in Erfurt bei Fritz Riemann (1859-1932) eine neue Heimat fand. Anderssen war Professor für Mathematik und deutsche Sprache am Friedrichs-Gymnasium in Breslau und Riemann gehörte zu seinen Schülern. Teile dieses Nachlasses von Riemann gingen irgendwann an den Ostberliner Historiker Prof. Joachim Petzold (1933-1999) und nach dessen Tod wohl z.T. an Lothar Schmid (1928-2013), wie Negele weiter vermutet. Der andere Teil des Nachlasses blieb zunächst in Erfurt und landete später bei Hans-Jürgen Fresen (*1953).
Eine Nachfrage beim größten Anderssen-Kenner unserer Zeit, Hans-Jürgen Fresen, machte leider keine Hoffnung auf eine Beantwortung der Frage nach dem Verbleib der Ehrensäule:
Alles was ich als Anderssen-Sammler weiß, lässt meine Befürchtung zur Gewissheit verdichten, dass der Ehrenpreis in Form einer (sicherlich relativ großen) Marmorsäule der Nachwelt verloren ist.
Fritz Riemann (der "jüngste Anderssen-Schüler") bekam Ende 1879 (damals 20 Jahre alt) nicht "den" Anderssen-Nachlass, sondern die Schwester Anderssens schenkte ihm lediglich einige wenige "Andenken" an seinen ehemaligen Mathematik- und Schachlehrer. Dazu gehörte 1. das Schachbrett Anderssens, das dieser 1851 nach dem Londoner Turnier von einem Verehrer geschenkt bekam und 2. Anderssens Schachfiguren, die dieser schon vorher hatte und die deshalb nicht unmittelbar zusammen gehören, aber von Anderssen zusammen benutzt wurden. Diese beiden Dinge sind explizit erwähnt in Riemanns Buch von 1925 "Schach-Erinnerungen des jüngsten Anderssen-Schülers" auf Seite 13. Offenbar bekam Riemann damals ("3.") auch das Ölgemälde mit der Abbildung Anderssens, von dem Prof. Petzold und auch ich selbst annahmen, dass Riemann es nachträglich habe anfertigen lassen. Aus Riemanns handschriftlichem Testament vom 21. Mai 1921, das ich 2015 erwerben konnte, geht aber hervor, dass es bereits zum "Anderssen-Kongress 1877" entstanden ist.
Damit sind die 2 bis 3 Dinge komplett, die Riemann 1879 bekam. Diese Dinge bekam 1971 Dr. Joachim Petzold von Katharina Riemann und ich bekam sie von Frau Waltraud Petzold. Diese Dinge waren also nicht in Erfurt verblieben, und ich bekam sie nicht "auf verschlungenen Pfaden", sondern direkt von der Witwe. "Auf verschlungenen Pfaden" bekam ich lediglich in 3 verschiedenen Ankäufen Dinge aus dem Riemann-Nachlass (nicht aus dem Anderssen-Nachlass).
Lothar Schmid hat 1999 von Frau Petzold keinerlei Dinge aus dem Anderssen-Nachlass bekommen und schon gar nicht die Ehrensäule.
Warum?
"Schach-Auktionen" wie heute bei Klittich gab es ja damals noch nicht, und ich befürchte, dass der Löwenanteil des Anderssen-Nachlasses in die unwürdigen Hände von Nichtschachspielern gelangt ist und der Nachwelt verloren ging.
Anderssen blieb unverheiratet, um für seine Mutter und eine ebenfalls unverheiratete Schwester zu sorgen. Leider brachte eine Suche auf dem Genealogie-Portal Ancestry.org keine Erkenntnisse über die Familie Anderssen. Somit bleibt das Schicksal der Ehrensäule weiter ungeklärt.
Nachdem die Feierlichkeiten um die Ehrung Anderssens beendet waren, begann die Beratung um die Gründung eines deutschen Schachbundes. "Offen herausgesagt: sie nahm leider den gleichen Verlauf, wie frühere Versuche derselben Art." schrieb die Deutsche Schachzeitung. Lediglich drei allgemeine Beschlüsse wurden gefasst:
Als Verbandsname der einstimmigen Gründung wurde "Allgemeiner Deutscher Schachbund" gewählt und im November-Heft der Deutschen Schachzeitung 1877 der vorläufige Statuten-Entwurf veröffentlicht. In der Generalversammlung zwei Jahre später beim Kongress 1879 wird als endgültiger Name "Deutscher Schachbund" beschlossen und die fertigen Statuten veröffentlicht. [DSZ 9/1879 S. 260f]
Im Sommer 1878 bei den Turnieren in Paris und Frankfurt war Anderssen bereits an Herzbeutelwassersucht erkrankt. Mit "fast übermenschlicher Kraft" [DSZ 5/1879, S. 146] versuchte er sich in den nächsten Monaten aufrecht zu halten. Erst zwei Tage vor seinem Tod legte er sich zum Sterben nieder und seufzte wiederholt "Ach wäre es doch bald vorüber!"
Nach einem Schlaganfall schlief er am Abend des 13. März 1879 um 21 Uhr für immer ein. In der Wiener Zeitung "Neue Freie Presse" erschien am 5. April 1879 ein Nachruf über ihn von Heinrich Ollscher:
Die Kunde von Anderssen's unerwartet rasch erfolgtem Tode hat überall, wo Göttin Caissa ihr ernstes Scepter schwingt, Trauer hervorgerufen. Und das Reich, das von ihr beherrscht wird, ist kein kleines; ihre Unterthanen, die auf der ganzen Welt verbreitet sind, beugen sich willig ihrem milden Zauber, und so sehr sie auch sonst durch Nation, Glauben und Cultur von einander verschieden sein mögen, vergessen sie allen Unterschied, sobald sie friedlich sinnend an dem in 64 Felder getheilten Brette sitzen, das sie, einem Freimaurerzeichen gleich, zu herzlicher Bruderschaft vereint.
Zwar gibt es auch der Gegner viele, welchen das Schach als Spiel zu ernst, als Wissenschaft zu viel Spiel ist, doch wird sich der Wissende, das heißt derjenige, welcher einmal über die Anfangsgründe dieses königlichen Spieles hinweggekommen ist, von so müßigem Streite nicht beirren lassen und dankbar für das reine unvergleichliche Vergnügen sein, das ihm durch tieferes Eindringen in die Feinheiten dieses einzigen aller Spiele schon bereitet wurde. Wer noch mit dem Gegenstände weniger vertraut ist, den wird es Wunder nehmen, zu hören, daß die Literatur über dieses Spiel Hunderte von Werken, darunter die ersten gedruckten von Lucena und Damiano um das Jahr 1500 zählt, und eines der gediegensten und umfassendsten Werke der Neuzeit, das Handbuch von P. R. v. Bilguer, eher einem Compendium der Mathematik, als einer Anleitung des Schachspiels ähnlich sieht. Diese äußere Aehnlichkeit ist wol kein Zufall, denn gewisse, dem Mathematiker nothwendige Eigenschaften sind auch für den Schachspieler von Wichtigkeit, und daher finden wir unter den Schach-Heroen nicht selten auch gute Mathematiker. Auch Adolph Anderssen war in dieser Disciplin eine Capacität, obschon ihn erst sein eminentes Talent im Schachspiel zu einer europäischen Berühmtheit machte. In Breslau am 6. Juli 1818 geboren, beschäftigte er sich bereits als neunjähriger Knabe mit Schach, vernachlässigte jedoch auch seine übrigen Studien nicht und bestand rühmlich Maturitäts-Prüfung und Staatsexamen. Als Hauslehrer nach Groß-Machmin bei Stolp berufen, hatte er in dieser Stellung hinlänglich Muße, sich mit Schachstudieu zu beschäftigen und gelegentlich öfterer Besuche in Berlin sich mit den dortigen starken Schachspielern zu messen. Diese Uebung wurde hauptsächlich im Jahre 1851 gepflogen, in welchem das erste große Londoner Turnier stattfand, zu welchem Anderssen von der Berliner Schach-Gesellschaft als ihr Delegirter gesendet wurde. In diesem Turnier besiegte Anderssen unter Anderem die bedeutenden Spieler Kieseritzky, Horwitz, Staunton. Mit diesem unerwarteten Siege gesellte er sich zu den ersten Größen und wurde mit Einem Schlage zur anerkannten Schach-Capacität. Doch auch der Schachlorbeer muß fort und fort erstritten werden, wenn er grünen bleiben soll, und so sehen wir Anderssen im Jahre 1858 in Paris, im Jahre 1862 wieder in London, 1870 in Baden-Baden, bei welchen großen Turnieren er stets alle seine mächtigen Gegner besiegte und nur Einmal von dem Amerikaner Paul Morphy, dessen Genie eben damals einem Meteor gleich am Schachhimmel emporstieg, geschlagen wurde.
In den letzteren Jahren mochte die Schärfe und Spannkraft des Geistes etwas nachgelassen haben, denn im Wiener Turnier 1873 gelang es Anderssen nur, den dritten Preis, im Leipziger Turnier 1877 den zweiten und im Ausstellungs-Turnier in Paris im Jahre 1878 nur den sechsten Preis zu erringen. Vielleicht, daß auch das Glück ihm weniger hold war, denn so gleichmäßig auch Wind und Wetter in diesem Spiele vertheilt sind, das Glück spielt insbesondere bei Turnieren doch eine Rolle. So sahen wir Anderssen im Wiener Turnier eine Partie durch einen Fingerfehler verlieren, da die einmal berührte Figur selbstverständlich gezogen werden mußte. Selbst in dem ihm zu Ehren veranstalteten Leipziger Turnier hatte er das Mißgeschick, die Unrichtigkeit eines ihm von seinem Gegner angekündigten dreizügigen „Matts" zwar zu erkennen, nach einigem Nachdenken aber gerade denjenigen Zug zu thun, auf welchen hin das dreizügige „Matt" in der That erfolgte, während es bei einer anderen Vertheidigung glänzend zu widerlegen war. Bei Turnieren verändert sich die Gewinn-Chance auch durch den Erfolg oder Mißerfolg der übrigen Theilnehmer; im Wiener Turnier wäre trotz der anerkannten Superiorität Steinitz' über Blackburne Ersterer nicht als Sieger hervorgegangen, wenn es nicht Rosenthal gelungen wäre, im letzten Match den bis dahin unüberwindlich scheinenden Blackburne zu besiegen, ihn hiedurch auf das Niveau mit Steinitz herabzudrücken und so dem Letzteren Gelegenheit zu bieten, nochmals mit Blackburne einen Entscheidungskampf einzugehen, der, wie bekannt, zu Gunsten Steinitz' endete. Es mögen daher Alter, persönliche Indisposition uud Zufälligkeiten zusammengewirkt haben, um Anderssen in der letzten Zeit den jüngeren Kräften gegenüber in Nachtheil zu bringen; doch wehe dem, der, hierauf bauend, sich auch nur die kleinste Unachtsamkeit zu Schulden kommen ließ; mit scharfem Blicke erspähte Anderssen die Schwäche, und umsonst war alle Gegenwehr des Opfers, dem Anderssen einmal die volle Kraft seiner Löwenklaue zu empfinden gab.
Anderssen war bedeutend als Theoretiker und als Praktiker. Als Mitarbeiter der Leipziger Schachzeitung und später der Deutschen Schachzeitung hat er hauptsächlich dazu beigetragen, das Schachspiel in Deutschland zu verbreiten und es auf eine Höhe zu bringen, die auf dem ganzen Festlande und auch jenseits des Meeres mit Achtung anerkannt wurde. Vorzüglich waren seine Analysen des Evans Gambit (dieses geistreichsten aller Gambitspiele) und seine gründlichen erklärenden Noten über viele sowol von ihm als von anderen Meistern gespielte Partien. Dem Problem gegenüber verhielt er sich ziemlich kühl und zog zu jeder die lebende Partie vor. Daher auch seine Hauptstärke im praktischen Spiele, das er durch viele von ihm gemachte Erfahrungen bereicherte und veredelte. Sein Spiel zeichnete sich durch Genialität und Kühnheit aus, dabei beobachtete er classische Ruhe auch in den verwickeltesten Phasen des Spiels. Anderssen war auch ein rascher Spieler, so daß ihm die Pariser Turnier-Regeln vom Jahre 1878, wonach nur 30 Züge in zwei Stunden zu machen waren, nicht zum Vortheile gereichten, ihn vielmehr ermüdeten und abspannten, da ein so langsames Tempo die Partien auf eine Zeit von 6 bis 8 Stunden ausdehnte. Das gewöhnliche und auch im Wiener Turnier zur Anwendung gebrachte Zeitmaß von 40 Zügen in zwei Stunden hätte ihm besser entsprochen.
Anderssen's Persönlichkeit war eine kräftig gebaute und gedrungene; der Kopf ausdrucksvoll und stark knochig, das Gesicht rasirt, der etwas große Mund stets zusammengepreßt. Den Eindruck einer geistig angelegten Natur machte er ganz und gar nicht, eher eines tüchtigen energischen Schulmannes, der ausgelassene Jungen prächtig übers Knie zu legen weiß. Im Umgange war er leutselig, unterhaltend, seinen Kunstgenossen ein sozialer Kamerad, satyrisch, aber nie verletzend.
Den Grundsatz: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang" hat er sehr in Ehren gehalten und als echter Deutscher einen Trunk nicht verschmäht. Bald nach seiner Ankunft in Wien drückte er den Wunsch aus, das berühmte Hernals wegen des dort geschenkten guten Heurigen kennen zu lernen. Eines schönen Nachmittags zog eine kleine Gesellschaft hinaus in die weinumrankten Gefilde, wo bei ortsüblichem Imbiß der feurige Wein vergnügt hinuntergeschlürft wurde. Anderssen hieft sich auch hier tapfer; hingegen war der Engländer Blackburne nicht in seinem Elemente; die ungewohnte Kost und der feurige Wein wirkten stark auf ihn, so daß er am nächsten, für ihn wichtigen Tage (er hatte die Entscheidungspartien mit Steinitz zu spielen) nicht in gewöhnlicher gelassener Stimmung war. Ueberhaupt gefiel Anderssen Wien und seine Umgebung besser als manche andere Stadt; er lobte es besonders wegen seiner günstigen sanitären Verhältnisse und äußerte sich wiederholt, daß er gerne hier weilen würde. Nur ein Umstand erregte ihm Mißbehagen, und das war der Lärm der Großstadt. Um die langgewohnte Ruhe seiner Vaterstadt mindestens wahrend der Nächte zu genießen, suchte er in Wien nach einer still gelegenen Wohnung, die er endlich gefunden zu haben glaubte. Doch hatte er die Rechnung ohne das musikalische Wien gemacht. Unter ihm wird das „Gebet einer Jungfrau" und über ihm „Auf Flügeln des Gesanges" angestimmt. Er flüchtet in das Hofzimmer; da erhebt Früh Morgens ein Hahn seine Stimme, dem sich ein Gewürzkrämer hinzugesellt, der Pfeffer stößt. Kein Wunder, wenn er nach schlecht verbrachter Nacht unwirsch ist und nicht mit der Geistesfrische spielt, die ihm sonst so sehr eigen ist. Dessen ungeachtet folgte Anderssen gerne und bereitwillig jeder Aufforderung, die ihn zum Kampfe berief. Um so auffallender war den Freunden des Altmeisters sein Verhalten auf dem letzten Frankfurter Turnier (August 1878), zu welchem er übermüdet und in reizbarem Zustande aus Paris kam; die Lust und Liebe, die sonst Anderssen bei der „Arbeit" empfand, war einer gewissen Lethargie uud Gleichgültigkeit gewichen. Sein robuster Körper schien unter einer ungewohnten Last zu wanken: es war der Todeskeim, der in ihm sich festsetzte und am 13. März d. J. sein Opfer forderte. Mit Anderssen verliert die Schachwelt eine ihrer größten Zierden; sein Name aber wird in der mehr als tausendjährigen Geschichte des Schachs stets einen hervorragenden Platz einnehmen.
Wien, Ende März
H. Ollscher
ChessBase zum 200. Geburtstag von Adolf Anderssen (2018) | Adolf Anderssen in der Wikipedia
Ein längerer Beitrag von Prof. Bernd-Peter Lange über Adolf Anderssen erschien in KARL 1/2018.
Frank Hoppe
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 9584