Zur Zukunft der Schachorganisation

"Wenn keiner weiß, was geschehen soll, sagen alle, es muss etwas geschehen." Helmut Qualtinger.
"Die Angst vor unpopulären Maßnahmen sollte nie größer sein, als der Wille vernünftig zu handeln."
Und:
"Was nützt das Ideale, wenn es zum Realen keine Verbindung hat." Manfred Rommel. "Es kann sich nur etwas ändern, wenn wir optimistisch sind." Carl Friedrich von Weizsäcker.

In den Berichten aus Anlass des Kongresses des Deutschen Schachbundes 2002 und seines 125-jährigen Bestehen wurden Strukturen und Verhalten des Deutschen Schachbundes und seiner Landesverbände verschiedentlich kritisiert und ein zukunftorientiertes Vorgehen gefordert. Motto: "Gestalten statt verwalten!"
Wenn eine Zukunft herbeigerufen wird, stehen immer zwei Frageworte vor uns: Wohin? und Woher? Wohin soll die Reise gehen? Und Woher kommen wir? Um meine entfernten Ziele zu erreichen, muss ich wissen, wo ich stehe; sonst kann ich keinen vernünftigen Weg planen. Hier ist meine persönliche Situationsanalyse:

Der Schachsport ist, wie viele andere Sportarten auch, dezentral organisiert und das aus gutem Grund: Die regionalen Umstände wollen beachtet sein, es soll Spielraum für regionale Entwicklungen geben, wir wünschen einen Wettbewerb der Ideen, die sich auf örtlicher oder regionaler Ebene leichter umsetzen und erproben lassen.
Ein Vergleich mit der genossenschaftlichen Organisation drängt sich mir auf. Deren Grund-Prinzipien gelten auch für die Schachorganisation:

Selbsthilfe, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung

auf der Basis von Solidarität und Subsidiarität (= dezentrale, föderale Strukturen). Die örtliche Organisationseinheit (unsere Vereine) hat Vorrang und ist autonom. Ausgegliedert werden Funktionen, die (nur) gemeinsam besser und wirtschaftlicher erfüllt werden können. Die logische Arbeitsteilung verpflichtet die Vereine zu allen Aspekten des Breitensport. Die Verbände geben Hilfe zur Selbsthilfe, leisten Beratungs- und Betreuungs-Aufgaben. Neben der Organisation überörtlicher, regionaler und nationaler Schach-Wettbewerbe (Meisterschaften) als ursprüngliche Kernaufgabe, stehen Ausbildung, Marketing, Leistungssport- und Nachwuchsförderung, eine allgemeine Jugendarbeit und Angebote für besondere Zielgruppen als wesentliche Aufgaben.
Spitzensport auf professionellem Niveau gehört nicht unmittelbar zu den Förderaufgaben gemeinnütziger Vereine. Profi-Sport erfüllt insoweit nur eine Hilfsfunktion im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit und als werbliche Maßnahme. Jedenfalls haben die meisten Ehrenamtlichen nicht die Absicht, auch viele Vereinsmitglieder, die sie vertreten nicht, Einkommensmöglichkeiten für Profi-Schachspieler zu organisieren. Die Repräsentation in der Nationalmannschaft oder die bei internationalen Meisterschaften mag ausgenommen sein.
Dies führt wegen der fehlenden und bisher gar nicht gewollten Unterscheidung zwischen Amateur- und Profisport im Schach immer häufiger zu falschen Erwartungen und Ansprüchen an die Schachverbände. Insbesondere werden deren finanzielle und personelle Möglichkeiten falsch eingeschätzt.
Viele Schachfreunde sind bereit, sich ehrenamtlich für den Schachsport und ihren Verein einzusetzen; einige auch auf den diversen Organisationsebenen der Landesverbände und des DSB. Aber der Umfang des Engagements findet seine Grenzen in den beruflichen, familiären und persönlichen Ansprüchen an die jeweilige Person. Das Leben besteht nicht nur aus Schach! Und nicht nur Schach macht glücklich.
Die Ansprüche an die handelnden Personen (in den Verbänden und Vereinen) wachsen auf allen Seiten. Doch in der Freizeit will man auch beim ehrenamtlichen Einsatz noch Freude empfinden, bei dem was man tut oder tun soll, und sich nicht für Defizite verantworten müssen, die man nur bedingt zu vertreten hat, und die zuweilen sehr freihändig erklärt werden. Verständlich wird daher eine verbreitete Haltung, sich nicht noch weitere Aktivitäten aufzubürden.
Gelingt es nicht mehr, ausreichend aktive Ehrenamtliche zu gewinnen, werden wir uns die von ihnen geleisteten Dienste kaufen oder darauf verzichten müssen. Entlastung durch haupt- oder nebenamtlich bezahlte Mitarbeiter ist zur Zeit nur in geringem Umfang finanzierbar. Auch eine weitergehende Zergliederung von Aufgaben (Projektarbeit) ist oft keine Lösung: wer leistet dann die Koordination?? Insoweit sind Unvollkommenheiten und längere Dauer bei Allem hinzunehmen.
Die Hoffnung auf eine dauerhafte Finanzierung unserer Wünsche in der Schachorganisation durch Sponsoren halte ich für illusionär. Der Gegenwert, den sie erreichen und wir versprechen können, bleibt regelmäßig verschwommen, d.h. unbestimmt. Für bestimmte Projekte sind Partner hin und wieder zu finden.
Mäzene leisten sich vereinzelt attraktive Veranstaltungen oder Mannschaften; aber keine Schachverbände.
Auf die Gesamtheit gesehen, müssen sich die Schachverbände, wie ihre Basis, auf die eigene Leistungsfähigkeit besinnen und sich auf das Wesentliche und das realistisch Mögliche beschränken! Dies wird ein schwieriger und vermutlich schmerzlicher Prozess für unsere gemeinnützige Schachorganisation, weil (persönliche) Vorlieben unterschiedlicher Art konkurrieren.
Im letzten Jahrzehnt hat man u.a. (zu) viele Wettbewerbe neu kreiert (national und international) und die finanzielle wie personelle Verantwortung schließlich den Verbänden überlassen. Wer traut sich einmal NEIN zu sagen, eine Meisterschaft nicht zu beschicken, wo es doch ums Schachspielen geht? Dabei finden DSB und Landesverbände nebst deren Schachjugenden selbst für Standardveranstaltungen kaum noch Ausrichter, die wesentliche Kosten übernehmen. Also hängt alles von Zuschüssen des DSB und Teilnehmerbeiträgen ab, die die Verbände nicht verfügbar haben und die Vereine nicht tragen wollen. Wir stehen an den Grenzen der Solidarität.
Das finanzielle Potential der Verbände ist ausgereizt und zukunftstragende Maßnahmen und Hilfestellungen bleiben nach ihrer Konzeption eine Hängepartie.

Nicht alles, was wir einmal begonnen haben, bleibt gleich wichtig.

Was sind unsere Kernaufgaben als Verbände / als Vereine?
Welche Strukturen tragen uns in der Zukunft?
Was können oder wollen wir uns noch leisten?

Wie können wir Schachfreunde zur freiwilligen Mitarbeit gewinnen?

Diese Fragen müssen wir uns in den Landesverbänden (und im DSB) widmen. Unsere Vereine suchen Rat (der DSB auch)! Im Schachverband Württemberg hatten wir ein Führungs-Seminar mit diesen Problemstellungen vorbereitet und das Präsidium des Badischen Schachverbandes e.V. sowie einen Vertreter des DSB dazu eingeladen (29.-30.06.2002).
Aber die Schachvereine und -Abteilungen müssen auch selbst wieder Freude an ihrer satzungsgemäßen Aufgabe finden; d.h. andere Menschen (Jugendliche wie Erwachsene - v.a. auch Senioren) immer wieder neu auf unseren schönen Sport und seine Vereine aufmerksam zu machen, sie als Schachfreunde anzunehmen und als Mitglieder zu integrieren.
Die Vereine müssen finanziell und personell aufrüsten, so dass sie sich z.B. einen Übungsleiter oder (Honorar-)Trainer leisten können. Kennen Sie einen Sportverein, der ohne Trainings- und Lernangebot auf Dauer lebt? Wie werben Sie für Schach im Schachverein? Auch dazu bieten sich unter anderem Kooperationen oder gar Fusionen an. Viele Schachvereine sind einfach zu klein, um sich in der Freizeitkonkurrenz von heute und erst recht von morgen zu positionieren. Nur der eigenen Schachspiel-Leidenschaft zu frönen, ist jedenfalls nicht genug! Dann trocknet uns die Bevölkerungsentwicklung unvermeidlich aus; nicht nur nach Anzahl der Mitglieder, sondern vor allem auch im Erleben kameradschaftlicher Gemeinschaft, im Erleben intellektueller Erfolge, im geteilten Hochgefühl eines Sieges wie im Mitgefühl bei einer Niederlage, und in der Gewissheit, diese Erfahrungen und Gefühle auch nachfolgenden Jahrgängen zu erhalten.

Ich möchte Sie, liebe Schachfreunde, ermutigen, bewusst die Freuden des Schachspiels mit Freunden wieder neu zu gestalten, damit Sie nicht nur Folgen eines schachsportlichen Ehrgeizes verkraften müssen - aber auch die können durchaus positiv sein. Wie sieht Ihre schach(freundschaft)liche Zukunft aus?

Wahre Schachfreunde werden nicht in DWZ gewogen!

Schachverband Württemberg e.V.
im Juni 2002

Hanno Dürr, Präsident