25. September 2020
Eigentlich sollte der 16. Mai 2020 der große Tag des SV Tübingen in diesem Jahr sein. An diesem Tag wollten die Tübinger Schachfreunde ihr 150-jähriges Bestehen feiern. Dr. Helmut Pfleger war als Ehrengast eingeladen, sollte einen Vortrag über Schach und Religion halten und wollte seine großmeisterlichen Fähigkeiten in einer Simultanvorstellung zeigen. Doch die anhaltende Corona-Pandemie machte auch diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. Grund zur Freude gibt es aber trotzdem und die große Feier wird baldmöglichst nachgeholt, vielleicht noch im Herbst, vielleicht aber erst im nächsten Jahr.
Der Schachverein Tübingen wurde am 6. Mai 1870 gegründet und liegt in der Rangliste der ältesten noch bestehenden Schachklubs Deutschlands auf Platz 18, hinter dem Schachclub Passau (1869) und vor dem Schachklub Union Eimsbüttel (Hamburg, 1871). Die Gründer des Klubs waren zwölf Studenten, alle Anfang 20. Da man im schwäbischen Tübingen alle Angelegenheiten sehr akkurat behandelt, sind natürlich auch die Namen der zwölf akademischen Schachfreunde noch bekannt. Der Klub wurde unter dem Namen „Akademischer Schachverein Tubingensis“ ins Leben gerufen. Das klingt nach Burschenschaft, vielleicht nach schlagender Verbindung. So etwas Ähnliches war der Klub auch, nur dass man hier ausschließlich Schachsteine schlug. Dreiviertel der zwölf Gründer waren Theologiestudenten. Der aus Basel stammende Schachfreund Paul Hoffman war mit 24 Jahren der älteste der zwölf Gründer, weshalb man ihm wohl die Aufgabe des 1. Vorsitzenden übertrug. Man traf sich in einer Gaststätte, die tatsächlich den Namen „Hades“ (Hafengasse 8) trug. Vielleicht traute sich außer Theologen hier auch niemand hinein. Im „Hades“ wurden Schach-Trainingskurse durchgeführt, Turniere gespielt und man analysierte gemeinsam die damals beliebten Korrespondenz- und Beratungspartien, die man gegen die Schachklubs in anderen Städten austrug. Anfangs war der Klub eine rein studentische Gruppe. 1877 trat der Akademische Schachklub Tübingen dem neu gegründeten Deutschen Schachbund bei, aber erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Klub auch für die nicht-studentische Bevölkerung geöffnet. Inzwischen hatte man sich in den heutigen Namen Schachverein Tübingen umbenannt. Der „Hades“ wurde als Spiellokal verlassen und der Klub residierte ab 1919 im „Ritter“ (Am Stadtgraben 25), ab 1925 in der Braugaststätte Neckarmüllerei“ (Gartenstraße 4) und in den 1930er Jahren im „Spieß“. Heute hat der SV Tübingen sein Spiellokal im Salzstadel bei der Jakobuskirche (im 1. Obergeschoss).
Bemerkenswerterweise war kein einziger der zwölf Gründer des Schachvereins aus Tübingen gebürtig. Die Studenten stammten aus Berlin, Ostpreußen, Brandenburg, Posen oder anderen Landstrichen Deutschlands. Nur einer kam aus dem nahe gelegenen Stuttgart. Mit seiner 1477 gegründeten Eberhard Karls Universität ist Tübingen eine der ältesten Universitätsstädte in Deutschland. Die Universität genießt auch heute noch einen ausgezeichneten Ruf und ist eine von nur neun deutschen Hochschulen, die weltweit unter den Top 100 Universitäten geführt wird. ("Times Higher Education"-Magazin). Von den 90.000 Einwohnern Tübingens sind 26.000 Studenten, was für den Eindruck einer sehr jungen Stadt sorgt. Die jungen Leute kommen nach Tübingen, studieren hier, aber die meisten verlassen die Stadt später auch wieder, kehren in ihrer Heimatorte zurück oder finden ihre berufliche Zukunft anderswo. Zu den zahlreichen spielstarken Studenten, die aber nur zeitweise in Tübingen Schach spielten, gehörte beispielsweise auch der 2016 verstorbene Dr. Gerhard Fahnenschmidt. Er erwarb zwar keinen Schachtitel, war aber zeitweise Nationalspieler und hatte später als Kadertrainer in Stuttgart einen legendären Ruf. Vielleicht ist diese Fluktuation der Grund dafür, warum in Tübingen kaum Spitzenspieler geformt wurden. Das Schachspiel gehörte als anspruchsvolle Entspannung in Tübinger Studentenkreisen zum akademischen Leben dazu, wurde offenbar stets als Nebensache, nicht als Hauptbeschäftigung angesehen.
Im Laufe der langen Geschichte wurde in Tübingen daher auch so gut wie kein großes internationales Turnier organisiert. Es gab allerdings viele Turniere mit regionalem Charakter und besonders stolz ist der SV Tübingen auf die vom Verein seit 1964 durchgeführten Tübinger Stadtmeisterschaften, an denen in guten Jahren etwa 70 Spieler aus der ganzen Region und auch starke Spieler aus dem Schachverband Württemberg teilnahmen. Das einzige internationale Meisterturnier fand vor fast 20 Jahren statt, im Jahr 2001.
Im württembergischen Schach war der SV Tübingen zwar immer eine feste Größe, erreichte aber nie eine Spitzenposition. Das änderte sich, nachdem man 1978 mit einem anderen Schachclub, dem „Schachclub Lange Peitsche Tübingen“ (Der Name spielt auf eine berühmte Variante des Königsgambit an.) fusionierte. Im Jahr 1983 gelang so erstmals der Aufstieg in die Zweite Bundesliga und 1994 schaffte die 1. Mannschaft des SV Tübingen sogar den Aufstieg in die höchste Spielklasse. In der ersten Saison 1994/95 erreichte man mit einheimischen Spielern und Großmeistern aus Tschechien und Ungarn einen fantastischen 5. Platz. Der Motor hinter dem Erfolg war Eckart Schulz und seine Frau, die mit viel Herzblut und persönlichem Engagement den Spielbetrieb der Bundesligamannschaft organisierten. Doch in der nächsten Saison stieg Tübingen wieder ab. Es war die Zeit, wo die Vereine immer mehr ausländische Profis einsetzten und in Tübingen fehlte dafür das Geld.
Zur damaligen Bundesligamannschaft gehörte schon Frank Zeller, der wohl der beste einheimische Tübinger Schachspieler aller Zeiten ist. Er kam 1992 nach Tübingen, ebenfalls als Student, und blieb im Gegensatz zu vielen anderen. 2001 wurde Frank Zeller zum Internationalen Meister ernannt. Beim erwähnten Meisterturnier im Jahr 2001 belegte er den zweiten Platz hinter dem Dortmunder Eckhard Schmittdiel, der eine Zeit lang ebenfalls für Tübingen spielte.
Frank Zeller betätigte sich auch als Schachtrainer und als Publizist und Autor. Und damit kommen wir zu einem Kapitel, in dem sich die Schachfreunde des SV Tübingen besonders hervorgetan haben. Frank Zeller veröffentlichte mehrere Bücher über Eröffnungen, ein Turnierbuch über das Tübinger Meisterturnier von 2001 und zuletzt (2018), zusammen mit Dr. Tim Hagemann ein Werk über „Vergessene Schachmeister“. Mit dem Tübinger Zweitligaspieler Rainer Schlenker gibt es einen weiteren publizistisch sehr aktiven Schachfreund im Verein. Rainer Schlenker hat eine große Leidenschaft für unorthodoxe Eröffnungen und gab für Gleichgesinnte in den 1980er und 1990er Jahren die Zeitschrift „Randspringer“ heraus. Über 70 Ausgaben erschienen, bevor dem Liebhaberwerk die publizistische Puste ausging. Schlenkers Sammlung „quixotischer Eröffnungen“ erfuhr aber kürzlich in der von Manfred Herbold herausgegebenen Reihe „Der Schachtherapeut“ eine Renaissance.
Auf ganz anderem Gebiet ist der Tübinger Historiker Dr. Hans Ellinger aktiv. Der FIDE-Meister, Tübinger Bundesligaspieler und zeitweilig auch Vorsitzende des SV Tübingen interessiert sich vor allem für die Geschichte des Schachs im südwestlichen Teil Deutschlands. Der frühere leitende Oberstaatsanwalt hat im Laufe der Zeit eine umfangreiche und bedeutende Schachbibliothek angelegt und gab dann schließlich selber zu verschiedenen zumeist historischen Themen einige kleinere Schriften von verschiedenen Autoren heraus. Die „Tübinger Beiträge zum Thema Schach“ erscheinen in kleinen Auflagen, sind sehr begehrt und schnell vergriffen. Band zehn ist die Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des SV Tübingen. Die Informationen zur Geschichte des Vereins sind dort veröffentlicht. Darüber hinaus berichtet Hans Ellinger in einem Aufsatz auch über die Geschichte des Schachs vor der Gründung des SV Tübingen, denn eine solche gab es natürlich auch. 1932 fand man beim Umbau eines alten Hauses vier Figuren, aus Hirschgeweih oder Walrossbein gefertigt, die man aufgrund ihrer Form als Schachfiguren deutete. Sie stammen aus dem 11. Jahrhundert, sind also in etwa so alt wie die berühmten Lewis Chessmen. Die Tübinger Figuren sind im Unterschied dazu jedoch in ihrer Ausarbeitung sehr stark abstrahiert und erinnern an arabische Schachfiguren. Sie werden jetzt im Museum der Universität Tübingen auf Schloss Hohentübingen aufbewahrt. Auch der Autor eines der ältesten deutschen Schriften zum Schach war ein Student der Universität Tübingen. Dr. Dr. Jacob Mennel studierte zwischen 1477 und 1484 in Tübingen Philosophie und beschäftigte sich darüber hinaus mit dem Schachspiel. 1498 schickte Dr. Mennel Kaiser Maximilian I., von dem bekannt war, dass er zum Ausgleich seiner Regierungsgeschäfte ebenfalls gerne Schach spielte, eine Expertise zum Wert des Schachspiels. Da es kein Glückspiel sei, sondern vom menschlichen Intellekt beherrscht, sei es nach christlichem und bürgerlichen Recht erlaubt, lautete Dr. Mennels Urteil. Maximilian I. ernannte ihn 1505 zum kaiserlichen Rat. Auch der Verfasser des ersten Buches über das Schachspiel in deutscher Sprache, Herzog August der Jüngere von Lüneburg und Braunschweig, hatte von 1595-1598 in Tübingen studiert, weiß Dr. Ellers in seinem Aufsatz zur Tübinger Schachgeschichte in der Festschrift zu berichten. Unter dem Pseudonym Selenus veröffentlichte der Herzog 1616 sein Werk „Das Schach- oder König-spiel“.
Es gibt einige weitere Tübinger Autoren, die Werke zum Schach veröffentlicht haben. Zu diesen gehört der bekannte deutsche Indologe Prof. Dr. Paul Thieme, der als Dozent an den Universitäten in Halle, Frankfurt/Main, Yale und ab 1960 auch in Tübingen lehrte. Da das Schach bekanntlich aus Indien stammt, interessierte er sich auch für dessen Geschichte und veröffentlichte 1960 das Werk „Chess and Backgammon in Sanskrit Literature“ und 1994 in Ellingers „Tübinger Beiträge“ die Schrift „Zur Frühgeschichte des Schachs“. Auch der Tübinger Philosophie-Professor Bruno Baron von Freytag Löringhoff (1912-1996) war Mitglied im SV Tübingen und so erschienen nach seinen zahlreichen Abhandlungen über Logik oder die „Ontologischen Grundlagen der Mathematik“ dann in den 1980er Jahren in den Schachmagazinen auch tiefe Analysen zum Blackmar-Diemer Gambit. Von Freytag Löringhoff hatte auch Interesse an der Computergeschichte und er baute 1957 die Rechenmaschine nach, die der Tübinger Astronomie-Professor Wilhelm Schickard 1623 in einer Mechanikerwerkstatt in Tübingen anfertigen ließ, um die langwierigen, fehleranfälligen Berechnungen in der Astronomie zu automatisieren. Die Maschine war der erste mechanische Vorläufer des Computers und entstand 50 Jahre vor der bekannteren Rechenmaschine von Gottfried Wilhelm Leibnitz aus dem Jahr 1673. Es gab zwei Exemplare, die beide bei einem Brand zerstört wurden. Die Erfindung geriet in Vergessenheit, bis Baron von Freytag-Löringhoff den Nachbau nach alten Aufzeichnungen realisierte. Der Baron Professor Bruno Baron von Freytag Löringhoff entstammte altem baltischem Adel und war ein sehr korrekter Mann alter Schule. Josef Wöll, der immerhin ein Drittel der Geschichte des SV Tübingen in verschiedenen Funktionen selber miterlebt hat, kannte den Baron noch persönlich und war Augenzeuge einer besonderen Begegnung. In den 1980er Jahren traf man sich in Tübingen noch regelmäßig in Schachcafés. Dort war auch Baron von Freytag Löringhoff regelmäßiger Gast. Eines Tages stellte er sich einem dort sitzenden ihm unbekannten dunkelhäutigen Studenten aus Mauritius vor. „Von Freytag“, sagte der Professor. „Und ich bin Robinson“, sagte der Student. Angesichts der vermeintlich albernen Anspielung auf den Roman von Daniel Dafoe fühlte sich der Professor nicht ernst genommen und verließ das Lokal wieder. Der Student hieß aber tatsächlich „Robinson“.
Weitere Tübinger Autoren waren Pertti Saarilouma, der Psychologe Michael Hohlfeld („Lautes Denken im Schach“), der Kognitionspsychologe Merim Bilalic, der Tübinger Lehrer Matthias Haberkorn, der Eröffnungsexperte Dr. Götz Moser, die Archäologie-Professorin Dr. Barbara Scholkmann oder die Kunsthistorikerin Elvira Mienert. Auf andere Weise mit der Feder aktiv war der Cartoonist Karl Wusch (1922-2001). Auch er war Mitglied im SV Tübingen und zeichnete Cartoons für Sonntagszeitung des Schwäbischen Tagblatts.
Der SV Tübingen ist der älteste Schachverein der Stadt, aber nicht der größte. 1992 spaltete sich aus Kreisen der Jugendabteilung des SV Tübingen der SK Bebenhausen ab, der den SV Tübingen inzwischen an Mitgliederzahl übertroffen hat und mit über 100 Mitgliedern, darunter viele Kinder und Jugendliche, sogar der größte Schachklub in Württemberg ist. Auch die 2006 gegründete SG Königskinder Hohentübingen hat ihren Schwerpunkt auf die Jugendarbeit gesetzt und kommt auf 80 Mitglieder.
Vor fünf Jahren drohte die Auflösung des SV Tübingen. Für einen solchen Vorgang sieht das Vereinsrecht eine Dreiviertelmehrheit vor. Diese kam knapp nicht zustande, da eine Minderheit des Vereins der Ansicht war, dass man fast 150 Jahre Schachgeschichte nicht so einfach über Bord werfen dürfe. Die Unstimmigkeiten führten jedoch zu weiterem Aderlass bei der Mitgliederzahl.
Vorsitzender des SV Tübingen ist seit einigen Jahren Prof. Dr. med. Dres. h.c. Bernd Domres. Derzeit hat der SV Tübingen 32 Mitglieder und nimmt noch mit drei Mannschaften, davon eine Seniorenmannschaft, an Mannschaftskämpfen teil.
Die 150 Jahre Schachgeschichte des Schachvereins Tübingen repräsentieren einen langen Abschnitt in der Kulturgeschichte der Stadt. Die Bedeutung des einst akademischen Schachvereins für die Stadt, aber auch für die Region kommt in den Grußworten zum Ausdruck, die der Festschrift voran gestellt sind. Neben dem Präsidenten des Deutschen Schachbundes Ullrich Krause und dem Präsidenten des Schachverbandes Württemberg Armin Winkler haben der Rektor der Universität Tübingen Professor Dr. Bernd Engler, der Oberbürgermeister der Stadt Tübingen Boris Palmer und der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg Winfried Kretschmann Glückwünsche geschickt. Boris Palmer gratulierte zum 150jährigen Jubiläum, wünschte „viel Spaß und Erfolg beim schnellsten Spiel der Welt“ (Das ist es!) und freute sich auf „die nächsten 150 Jahre voller spannender Schachduelle!“ So soll es sein.
André Schulz
DSB-Beauftragter für Schachgeschichte und Schachkultur
// Archiv: DSB-Nachrichten - Schachgeschichte // ID 23728