16. Dezember 2023
Als wir vor einigen Wochen in der DSB-Geschäftsstelle wieder ein Buch in der täglichen Post entdeckten, hüpfte das Herz unseres schachgeschichtlich interessierten Mitarbeiters Frank Hoppe hörbar in die Höhe. "Schach in Ostberlin 1945-1990" von Wolfgang Thormann und Arno Nickel war genau der Mosaikstein, der die noch weitgehend unerforschte Schachgeschichte von Ostberlin dem Vergessen entreißt und vielleicht für eine weitere Aufarbeitung sorgt. Während das schachliche Geschehen in Westberlin allein durch das monatlich erschienene "Mitteilungsblatt" des (West-)Berliner Schachverbandes recht gut dokumentiert ist, bleibt das Ostberliner Schach weitgehend im Dunkeln verborgen. Ein Mitteilungsblatt gab es zwar auch dort bis in die 1970er Jahre, aber auch aufgrund der Knappheit an Ressourcen wie Papier wurde es irgendwann eingestellt.
Mit "Schach in Ostberlin 1945-1990" legt Wolfgang Thormann bereits sein zweites Werk vor. Seinen Erstling "Schachporträts von Berliner Schachspielerinnen und Schachspielern" gab er vor zwei Jahren noch im Selbstverlag heraus. Es war auch eine Antwort auf das bereits 2013 erschienene Buch "Berliner Schachlegenden" von Michael Dombrowsky, in dem bis auf Kurt Richter nur Westberliner Schachmeister porträtiert wurden.
Für seinen Nachfolger hat sich der Urberliner und frühere Meisterspieler Thormann den bekannten Schachverleger Arno Nickel ins Boot geholt. Entstanden ist ein Buch, das Thormanns Debütwerk noch bei Weitem übertrifft.
Arno Nickel war nicht nur als Verleger tätig, sondern steht zurecht mit als Autor auf dem Titel. Das Interview mit Raymund Stolze und das vielseitige erste Kapitel zum Berliner Schach nach dem Zweiten Weltkrieg entstammt seiner Feder. Eine weitgehend objektive Rückschau auf diese Zeit ist aufgrund "schwindender Zeitzeugen" (Nickel) nach fast acht Jahrzehnten nahezu unmöglich. Es gibt nur noch wenig verfügbare Dokumente und vieles findet man nur noch in den damaligen Schachzeitschriften.
Doch was passierte nun nach 1945 mit dem Berliner Schach?
Die vier Siegermächte (Alliierte) des Zweiten Weltkrieges Sowjetunion, USA, Frankreich und Großbritannien übernahmen die Verantwortung über das besiegte Deutschland, das nach der Entmachtung der Nationalsozialisten ohne Regierung dastand. Das hatte auch Auswirkungen auf den Sport. Die Alliierten erließen ein allgemeines Vereinsverbot, um das Wiederaufleben nazistischer Organisationstrukturen zu verhindern. Davon waren praktisch alle Vereine betroffen. Bereits ab Juni 1945 wurde allerdings die Bildung kommunaler Sportgruppen erlaubt, deren Leiter vom Nationalsozialismus unbelastete Funktionäre waren. Im Berliner Schach bildeten sich in praktisch allen Bezirken und vielen Stadtteilen Gruppen. Die beiden führenden Schachgruppen nach dem Krieg waren Prenzlauer Berg und Wedding. Die Schachgruppe Prenzlauer Berg mit Berthold Koch an der Spitze gehörte damals in ganz Deutschland zu den führenden. Am 1. April 1949 ging aus dieser Schachgruppe der heutige Schachverein Berolina Mitte hervor.
In der sowjetischen Besatzungszone entwickelte sich der Sportbetrieb in der Folgezeit völlig anders. Während die Westalliierten bald wieder die alten Vereinsstrukturen erlaubten, wurden im Osten Betriebssportgemeinschaften gebildet und die alten Vereine gerieten in den nächsten Jahrzehnten in Vergessenheit.
Bis 1952 fand noch eine gemeinsame Berliner Mannschaftsmeisterschaft statt. Diese gewann die BSG 1827 Eckbauer vor dem SC Kreuzberg (beide Westberlin) und ZSG Werner Seelenbinder (die frühere Schachgruppe Prenzlauer Berg). Danach trennten sich die Wege. Der (West-)Berliner Schachverband beschloss am 18. August 1952 die Wettkämpfe getrennt vom Osten auszutragen und folgte damit einer Resolution des Sportverbandes Berlin.
Arno Nickel geht auf 22 Seiten detailliert auf die Entwicklung des Berliner Schachs nach 1945 ein. Dabei nutzt er viele Quellen, wie die Chronik des Landessportbundes Berlin, den Schach-Express und deren Nachfolger SCHACH, das Mitteilungsblatt des Berliner Schachverbandes oder die Schachzeitung Caissa.
Am Beispiel seines Vereins TSG Oberschöneweide geht Wolfgang Thormann im folgenden Kapitel ausführlich auf die Entwicklung eines Ostberliner Vereins ein. Die TSG Oberschöneweide entstand 1956 als Sportclub Motor Berlin und war neben Dresden, Halle und Leipzig eines von vier Leistungszentren des DDR-Sports. Hier wurden die besten Sportler des Landes konzentriert, wodurch manch anderer Verein wichtige Leistungsträger verlor. So begann auch der Niedergang der ZSG Werner Seelenbinder (die inzwischen BSG Motor Mitte hieß), der mit Koch, Dieter Brüntrup, Johannes Eising, Hans-Jürgen Stieg oder Horst Handel einige der besten Spieler abhanden kamen.
Den Hauptteil des Buches bilden die Porträts von Ostberliner Schachmeistern, akribisch zusammengetragen von Wolfgang Thormann. 22 der 24 Lebensläufe waren bereits in seiner 2021 im Selbstverlag erschienenen Broschüre "Schachporträts von Berliner Schachspielerinnen und Schachspielern" enthalten. Neu hinzugekommen sind nur Günter Ahlberg und Werner Reichenbach. Alle anderen Porträts wurden leicht überarbeitet und in das vorliegende Buch übernommen. Damit dürften auch Nachfragen nach den nur in einer Auflage von 50 Stück erschienenen "Schachporträts von Berliner Schachspielerinnen und Schachspielern" nicht nötig sein. Thormann, der von seinem Erstling noch drei Exemplare besitzt, hat keine zweite Auflage geplant.
Bei den vorgestellten Schachmeistern lag der Fokus von Thormann auf den Spielern seiner BSG AdW Berlin. Die Schachsektion der Akademie der Wissenschaften (AdW) gehörte zu den führenden in der DDR, stand aber immer im Schatten von Leipzig und Halle(-Neustadt). Nur 1967 konnte die einzige DDR-Mannschaftsmeisterschaft gewonnen werden. Da profitierte die neugebildete Schachsektion noch vom Niedergang der Sportclubs. "Schon 1967 mussten alle nichtolympischen Sportarten die Sportclubs verlassen" schreibt Thormann auf Seite 34. Schach galt nicht mehr als förderungswürdig und die Schachspieler vom TSC Berlin (früher SC Motor Berlin) fanden bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) eine neue Heimat.
Unter den Porträtierten finden sich neben international bekannten Meistern wie Berthold Koch (33 Länderspiele von 1952 bis 1958), Lothar Zinn (88 Länderspiele von 1959-73), Reinhart Fuchs (152 Länderspiele von 1953-70) und den Fernschach-Exweltmeistern Horst Rittner und Fritz Baumbach (auch 37 Länderspiele im Nahschach von 1960-71) auch viele unbekanntere Namen. Und damit meine ich nicht die Internationalen Meisterinnen Brigitte Burchardt, Annett Wagner-Michel und Antje Göhler. Es sind eher Spieler wie Günter Ahlberg, Lothar Kollberg oder Uwe und Heidrun Bade. Das auch ihnen ein Platz in der Schachgeschichte eingeräumt wird, finde ich sehr gut. So ist Ahlberg einer von denen, die nie beim TSC oder AdW Mitglied waren. Mit seiner SG Weißensee gelang Ahlberg 1953 sogar der Aufstieg in die DDR-Oberliga. Zu dieser Mannschaft gehörten die ebenfalls porträtierten Bruno Ullrich und Werner Reichenbach. Mit Letzterem verband Ahlberg eine lange Freundschaft.
Reichenbach kam 1970 in Konflikt mit der DDR-Staatsmacht und landete im Gefängnis. Die Bundesrepublik kaufte ihn nach wenigen Monaten für 40.000 DM frei (die Inflation berücksichtigend, heute über 81.000 Euro!). In Westberlin gewann er sogleich die Stadtmeisterschaft, was er noch mehrfach wiederholen konnte. 1975 wurde er sogar für fünf Länderspiele in die westdeutsche Nationalmannschaft berufen. Als die Mauer fiel, suchte Reichenbach sofort wieder seine Ostberliner Schachfreunde auf, darunter natürlich Ahlberg, Thormann und Olaf Thal (ebenfalls im Buch vorgestellt). Als Thal 2001 starb, lernte er dessen Witwe Christiane besser kennen und lieben.
Bis zur Lektüre dieses Buches war mir der Name Christiane zwar ein Begriff, weil Werner von ihr schwärmte, doch das sie bereits mit einem (bekannten) Schachspieler verheiratet war, war mir neu. Ich hatte mit Werner viele Jahre Kontakt, weil er irgendwann mitbekam, das ich nicht nur vom Schach ein wenig Ahnung hatte, sondern mich auch mit Computern, Internet und Windows ganz gut auskannte. Unzählige Stunden verbrachte ich mit Fernwartungssitzungen, um ihm bei Softwareproblemen zu helfen. Er lud mich zu seinen Geburtstagen ein, die er oft mit einigen Gästen in Restaurants feierte, obwohl es ihm finanziell nicht so gut ging. Einmal lud er mich sogar in sein Appartement in der Seniorenwohnanlage in der Iranischen Straße in Wedding ein. Der Begriff Appartement war dabei noch weit übertrieben, denn Zimmer, Küche und Toilette waren praktisch ein Raum mit vielleicht 10-12 Quadratmetern.
Wolfgang Thormann, der wohl alle der Porträtierten persönlich kannte oder kennt, schrieb mir, das "es sicher noch viele interessante Berliner Spieler" gibt, die eine Würdigung verdienen. Von Hartmut Höckendorf, Hilmar Petzold und Dieter Urban hatte er noch Material zusammengetragen, was es nicht mehr in dieses Buch schaffte. Auch Peter Krug und Wolfgang Rohde standen auf der Liste, doch von ihnen hat er zu wenig Informationen.
Seite | Kapitel | |
---|---|---|
7 | Schach in Berlin nach 1945 − Neubeginn und deutsche Teilung | |
28 | Geschichte eines Ostberliner Schachvereins | TSG Oberschöneweide |
39 | Berthold Koch | 22.02.1899 Berlin − 02.05.1988 Berlin |
42 | Bruno Ullrich | 23.03.1907 Berlin − 06.12.1980 Berlin |
45 | Hans Platz | 13.12.1919 Halle/S. − 22.10.1988 Berlin |
47 | Günter Ahlberg | 21.03.1929 Berlin − 13.12.2016 Berlin |
49 | Horst Rittner | 16.07.1930 Breslau − 14.06.2021 Berlin |
52 | Horst Strehlow | 20.11.1931 Berlin |
54 | Werner Golz | 08.11.1933 Berlin − 26.10.1974 Berlin |
57 | Reinhart Fuchs | 28.09.1934 Berlin − 16.12.2017 Berlin |
60 | Bodo Starck | 13.10.1934 Berlin |
63 | Fritz Baumbach | 08.09.1935 Weimar |
66 | Horst Handel | 17.11.1935 Berlin |
69 | Olaf Thal | 14.12.1935 Berlin − 22.03.2001 Berlin |
72 | Dieter Brüntrup | 01.04.1936 Berlin |
75 | Werner Reichenbach | 24.04.1936 Dresden − 29.06.2016 Berlin |
79 | Hartmut Badestein | 10.06.1936 Halle/S. |
81 | Lothar Kollberg | 07.02.1938 Berlin |
84 | Lothar Zinn | 19.03.1938 Erfurt − 29.02.1980 Berlin |
86 | Hermann Brameyer | 11.08.1939 Essen |
88 | Uwe Bade | 22.09.1940 Berlin |
91 | Heidrun Bade (geb. Gallander) | 15.04.1945 Halle/S. |
94 | Wolfgang Thormann | 23.06.1949 Berlin |
97 | Brigitte Burchardt (geb. Hofmann) | 17.10.1954 Weißenfels |
99 | Annett Wagner-Michel (geb. Michel) | 13.05.1955 Halle/S. |
101 | Antje Göhler (geb. Riedel) | 18.10.1967 Berlin |
103 | Meine Zeit beim Sportverlag Berlin | Interview mit Raymund Stolze |
114 | Berliner Schachmeister am Brett | |
134 | Berliner Meisterschaft (Ost) 1955−1990 | Halbfinale zur DDR-Meisterschaft |
142 | Offene Berliner Meisterschaft (Ost) 1961−1977 | Stadtmeisterschaft |
145 | Turniere und schachliche Höhepunkte in Ostberlin | |
148 | Dokumentarischer Anhang: Auszüge aus Schach 1979/80 | |
152 | Partien-Verzeichnis | |
153 | Namen-Verzeichnis |
Die Idee zu diesem Buch entstand, nachdem Wolfgang Thormann bei Arno Nickel mit seinem Buch "Schachporträts von Berliner Schachspielerinnen und Schachspielern" und mit vielen Dokumenten, z.B. der Vereinschronik von TSC und AdW, Tabellen von Berliner und DDR-Meisterschaften sowie Reminiszenzen vom Berliner Schachleben 1949 bis 1990 vorstellig wurde.
Neben einem tabellerischen Teil mit Ergebnissen von vielen Ostberliner Turnieren und einem Partienteil, wo auch Spieler berücksichtigt wurden, die nicht porträtiert wurden, gibt es ein Kapitel mit einem sehr interessantem Interview. Arno Nickel sprach mit Raymund Stolze, dem ehemaligen Lektor des Sportverlages Berlin.
Stolze wurde einer breiten Schachöffentlichkeit durch sein Amt als Öffentlichkeitsreferent des DSB bekannt, als er von Juni 2011 bis Januar 2012 intensiv Nachrichten für unsere Website schrieb und dabei eng mit mir zusammenarbeitete. Nach seinem Rücktritt engagierte er sich beim Schach-Ticker von Franz Jittenmeier. 2015 wurden er und Jittenmeier für die schachliche Berichterstattung mit dem Deutschen Schachpreis geehrt.
Obwohl ich Raymund Stolze jetzt schon mindestens zwölf Jahre kenne und sein Name mir schon früher ein Begriff war (Buch "Umkämpfte Krone"), war mir bis zu diesem Interview nicht bewußt, das ich seinen Namen schon sehr viel länger im Gedächtnis habe: Stolze arbeitete zehn Jahre lang als Kulturredakteur der Zeitung "Junge Welt", dem Zentralorgan der FDJ. Die "Junge Welt" war als Jugendlicher meine Standardlektüre.
Um Stolzes Arbeit als JW-Kulturredakteur geht es im Interview mit dem Titel "Meine Zeit beim Sportverlag Berlin" natürlich nicht. Im Sportverlag Berlin erschienen viele Schachbücher, darunter die berühmte 24-bändige Eröffnungsreihe "Moderne Eröffnungstheorie", die auch im Westen sehr begehrt war. Hochkarätige Autoren wie Alexej Suetin, Mark Taimanow oder Lew Polugajewski wurden dafür verpflichtet. Neun Russisch-Übersetzer wurden engagiert, als Koordinator fungierte Hans Platz. Von jedem Band gab es eine Auflage von 10.000 Stück. Es erschienen mehrere überarbeitete Nachauflagen. Bis zur Entstehung von digitalen Eröffnungsdatenbanken war die "Moderne Eröffnungstheorie" das Theorie-Standardwerk im deutschen Sprachraum.
Den Sportverlag hat die Eröffnungsreihe überlebt. Der wurde nämlich 1999 abgewickelt. Raj Tischbierek gründete den Exzelsior-Verlag als Nachfolger des Sportverlages.
Wir verlosen unter allen Einsendern, die uns die folgende Frage richtig beantworten, dreimal ein Exemplar von "Schach in Ostberlin 1945-1990". Unter allen Nichtgewinnern wird darüberhinaus ein Exemplar des Schachkalenders 2024 verlost.
Sie können an der Verlosung bis zum 1. Januar 2024 teilnehmen. Am 2. Januar 2024 werden die Gewinner ermittelt und benachrichtigt.
Tip: Mit Hilfe der Wikipedia sollten Sie auf die richtige Lösung kommen.
Sollten Sie nicht zu den Gewinnern zählen, können Sie das Buch "Schach in Ostberlin 1945-1990" und den Schachkalender 2024 auch bei unserem Partner "Schach Niggemann" erwerben.
Die Verlosung wurde am 2. Januar 2024 beendet.
Frank Hoppe
// Archiv: DSB-Nachrichten - Schachgeschichte // ID 11224