1. Juli 2020
Üblicherweise haben Vereine ja kein Gesicht – oder ganz viele. Den Lübecker Schachverein verbindet man aber tatsächlich besonders mit einer Person – oder einem Gesicht. Es ist das von Eckhard Stomprowski. Er ist kein besonders starker Spieler, aber im Lübecker SV ist Eckhard Stomprowski eine Legende. Der inzwischen 77-Jährige ist die Seele des Vereins – seit über 50 Jahren.
Zum Schach ist „Ede“, wie er hier genannt wird, – warum, weiß er auch nicht – wie die „Mutter zum Kinde“ gekommen. Sein Bruder Dietrich spielte recht gut und war zudem mit Joachim Raeder befreundet, einem der besten Talente in Deutschland nach dem Krieg. Raeder war Teilnehmer der deutschen U20-Meisterschaften 1947 in Weidenau, die vom überragenden Lothar Schmid mit 13 aus 13 gewonnen wurden. Auch Stomprowskis Mutter hatte hobbymäßig schon gerne Schach gespielt. Aber auf ihn selber war der Funke (noch) nicht übergesprungen.
Der Lübecker Schachverein wurde 1873 gegründet, ist damit der älteste Schachverein in Schleswig-Holstein und einer der ältesten in Deutschland. Initiator und erster Vorsitzender war seinerzeit Carl Emil Ed, Sohn des Verlegers und Politikers Christoph Marquardt Ed. Dieser war 1865 mit seiner Familie von Hamburg-Bergedorf nach Lübeck gezogen. Die Lübecker Familie Ed brachte einige illustre Persönlichkeiten hervor. Carl Emil Eds Schwester Ida Boy-Ed war zu jener Zeit eine berühmte Schriftstellerin, heute fast vergessen, und pflegte in Lübeck einen Salon. Sie förderte junge Künstler und Schriftsteller, darunter Thomas Mann. Die Familien Ed und Mann pflegten über Jahrzehnte eine enge Freundschaft. Ida Boy-Eds Sohn Karl war in späteren Jahren als Fregattenkapitän und Militärattaché in den USA tätig. Er war dort zunächst sehr beliebt und zählte unter anderem den späteren Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu seinem Bekanntenkreis. Nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges stellte sich jedoch heraus, dass Karl Boy-Ed sich für das Deutsche Reich als Agent und Spion betätigte und unter anderem Sabotageaktionen gegen Eisenbahn- und Wasserwege in den USA organisiert hatte, um Lieferungen nach England zu stören. Das nahmen ihm die Amerikaner übel und wiesen ihn 1917 aus.
Die Familie Boy-Ed mag stellvertretend für das gesellschaftliche Umfeld stehen, in dem der Lübecker SV ins Leben gerufen wurde. Der neue Schachklub diente vor allem dem geselligen Beisammensein. Das Turnierschach stand nicht so sehr im Vordergrund und so ist der Lübecker SV als Gastgeber und Organisator von großen Schachturnieren in der damaligen Zeit nur selten in Erscheinung getreten. In der Inflationszeit verlor der Lübecker SV seine finanziellen Reserven und beim Bombenangriff 1942 ging das Archiv des Vereins, untergebracht in einem Hotel, in Flammen auf. Der Klub selber überlebte den Krieg, aber nur mit wenigen Mitgliedern. 1945 zählte man ein Dutzend. Nun übernahm Dr. Hans Steen den Vorsitz und unter seiner Leitung lebte der Klub neu auf. Dr. Steen wurde bald auch Vorsitzender des 1946 gegründeten Schachverbandes von Schleswig-Holstein. Der Lübecker SV etablierte sich in den 1950 und 1960er Jahren nach und nach auch sportlich mit spielstarken Mannschaften in Schleswig-Holstein und nun erreichen wir schon die Zeit, in der Eckhard Stomprowski in die Geschichte des Vereins eintritt.
Stomprowskis Familie stammte aus Ostoda in Masuren. Als er im Dezember 1943 dort geboren wurde, hieß der Ort Osterode i. Ostpreußen. Im Januar 1945 war auch die Familie der Stomprowkis vor der heranrückenden Roten Armee nach Westen geflohen. Eigentlich wollten die Eltern von Eckhard Stomprowski mit ihren fünf Kindern zu Verwandten nach Hamburg. Doch Hamburg war schon so überfüllt mit Flüchtlingen, dass es gesperrt wurde und so landete die Familie in Lübeck. Eckhard Stomprowskis Vater war Kaufmann und Maler und gründete in Lübeck ein Geschäft für Lacke, Farben, Tapeten und Bodenbeläge. In den Jahren nach dem Krieg herrschte dafür ein großer Bedarf, das Geschäft florierte und der Familie ging es bald wieder gut. Nach der Grundschule besuchte Eckhard Stomprowski das Gymnasium Johanneum und machte 1965 sein Abitur. Dann studierte er Jura, absolvierte 1971 sein erstes und 1974 sein zweites Staatsexamen. Erst während seines Studiums kam Eckhard Stomprowski mit dem Schachspiel näher in Berührung und zwar deshalb, weil seine Studienfreunde Lutz Klibor und Andreas Longwitz beide intensiv Turnierschach spielten. Nach gemeinsamen Examensstudien, die häufig in der Lübecker Kneipe „Buthmanns“ endeten, nahmen die beiden ihren Kommilitonen zum Schachabend beim Lübecker SV mit. Klibor und Longwitz gehörten zu der Zeit zu den besten deutschen Talenten und wurden zu internationalen Jugendturnieren eingeladen, wo sie auf junge Spieler wie Heikki Westerinen oder Ulf Andersson trafen und mit den späteren Großmeistern durchaus mithalten konnten. Eckhard Stomprowski ging mit und blieb. Von nun an wurden die Besuche im Lübecker SV erst zur regelmäßigen Gewohnheit, dann zur Passion. Mit der Reclam-Ausgabe von Dufresne-Mieses „Lehrbuch des Schachspiels“ bereitete sich Stomprowski eifrig auf seinen ersten Einsatz in der Bezirksliga vor, konzentrierte sich auf das Studium der Italienischen Partie, wurde aber vom Gegner überrascht: „Es war ein Debakel, denn zu meinem Entsetzen zog mein Gegner Herr Meyer auf mein 1. e4 nicht wie selbstverständlich erwartet 1.....e5, sondern 1.....c5. Was nun?“, erinnerte sich Eckhard Stomprowski an seine erste Turnierpartie.
Bei einer Mitglieder-Versammlung im Jahr 1970 fragte der damalige Vorsitzende Gernot vom Ende, wer denn die Aufgabe des Turnierleiters übernehmen wolle und da gerade alle anderen Aspiranten verlegen zur Seite oder unbeteiligt aus dem Fenster schauten, sprach er gezielt Eckard Stomprowski an. „Ich kann das ja ein paar Jahre machen“, nahm Stomprowski das Angebot an. Es wurde ein halbes Jahrhundert daraus.
Nach Abschluss seines Studiums arbeitete Stomprowski ein halbes Jahr in der Rechtsabteilung des Kreis Stormarn und wechselte dann in die Bundesgrenzschutzschule in Lübeck, eine Außenstelle des Bundesministeriums des Inneren. Heute heißt die Schule „Bundespolizeiakademie“. Auch bei seinem Arbeitsplatz in Lübeck zeigte „Ede“ Stomprowski große Konstanz und konnte so auch im Verein über diesen unglaublich langen Zeitraum wirken. Im Laufe der Jahre kamen beim Schach immer neue Aufgaben hinzu. Er wurde Teamcaptain der 1. Mannschaft, Turnierleiter im Schachbezirk Lübeck und vertrat den Bezirk im Turnierausschuss (später Spielausschuss) des Landesschachverbandes.
Der Lübecker SV verzeichnete ab Mitte der 1970er Jahre mit einigen spielstarken Talenten, darunter die Brüder Ulrich, Eckehard und Martin Sieg, Andreas Richter, Stefan Lindemann, Michael Ehrke und Michael Dreyer, einen spürbaren sportlichen Aufschwung. 1976 richtete der Verein in Lübeck die Deutsche Jugendmeisterschaft U20 aus und spielte 1978 mit seiner Jugendmannschaft bei der Endrunde der Deutschen Jugendvereinsmeisterschaften mit. In der Zweiten Bundesliga wurde man zur festen Größe und nach dem Zerfall der Sowjetunion verpflichtete man mit Oleg Romanishin und Arshak Petrosian (inzwischen der Schwiegervater von Peter Leko) die ersten Großmeister aus dem ehemaligen „Ostblock“. Damals hatte der Lübecker SV sein Domizil noch in der Stavenstraße. Ende 1996 bezog der Verein seine heutigen Räume in der Sophienstraße, citynah und unweit des malerischen Mühlenteichs gelegen.
Der Lübecker SV erfreute sich inzwischen der großzügigen finanziellen Unterstützung seines Mitgliedes Winfried Klimek, der eine sehr erfolgreiche Firma gegründet hatte, die Empfangsgeräte für den TV-Empfang herstellte, die Galaxis AG. Im Einklang mit den Zielen des Vereins wollte Klimek den Lübecker SV zu einem Spitzenteam formen. Mit der Verpflichtung von Großmeistern wie John Nunn, Lars Bo Hansen, Jonny Hector und Sergei Kalinitschew gelang in der Saison 1998/99 auch der Aufstieg in die Erste Bundesliga.
Nach dem Aufstieg wurde die die Mannschaft dank der finanziellen Hilfen von Winfried Klimek weiter verstärkt. Es kamen Alexej Shirov – damals die Nummer sechs der Weltrangliste –, Jonathan Speelman, Evgenij Bareev, Nick de Firmian und Ralf Lau. Als Dritter der Setzliste nach Eloschnitt hinter Solingen und Porz wurde Lübeck aber zum Schluss der Saison nur Elfter und musste sich zwischendurch sogar mit dem Abstieg beschäftigen. Wenn man dem Ziel Meisterschaft näher kommen wollte, musste die Mannschaft also weiter verstärkt werden. Und das geschah auch. Als Neuzugänge verpflichtete Lübeck für die nächste Saison Mickey Adams, Julian Hodgson, Simen Agdestein und Vladimir Jepishin. Damit stellte Lübeck die bestbesetzte Bundesliga-Mannschaft der Saison. Und die Lübecker Presse feierte die stärkste „Vereinsmannschaft des Planeten“ in ihrer Stadt.
Diese bescherte dem Lübecker SV dann schließlich auch die gewünschte Meisterschaft. Zwei weitere sollten folgen und die Meistermannschaften wurden dabei stets verstärkt. In der zweiten Meistersaison stießen Francisco Vallejo Pons und Stuart Conquest zum Team.
In der letzten Meistersaison gehörten mit Alexander Grischuk und Joel Lautier zwei weitere Weltklassespieler zum Team. Zweimal gewann der Lübeck SV auch noch die Pokalmeisterschaft, 2001 als Ausrichter und Gastgeber, mit Eckhard Stomprowski als Mannschaftsführer der 1. Mannschaft. Unterstützt von Torben Denker sorgte er dafür, dass alle Spieler zur rechten Zeit am rechten Ort waren, kümmerte sich um die Anreisen und Übernachtungen und reiste auch bei den Auswärtskämpfen mit. Seine vielen Erlebnisse in dieser glanzvollen Zeit hat Stomprowski mit Berichten von allen Wettkämpfen in zwei Fotobüchern festgehalten und kommentiert, die man in den Clubräumen des Lübecker SV einsehen kann. Auf dem Höhepunkt des Erfolges wurde auch die Stadt Lübeck auf seinen Schachclub aufmerksam und bot dem Klub den Bürgerschaftssaal im altehrwürdigen Lübecker Rathaus für die Austragung der Heimkämpfe an.
Die internationalen Profis erfüllten aber nicht nur ihre Aufgabe bei den Mannschaftskämpfen, sondern nahmen auch am Klubleben teil. Vor den Heimkämpfen kamen die Spieler freitags ins Klublokal und beteiligten sich gerne am Blitzturnier. Der Kontakt mit den vielen spielstarken Schachspielern aus vielen verschiedenen Ländern war eine Bereicherung für das Vereinsleben.
Sponsor Winfried Klimek hatte als Unternehmer in der Informationstechnik ein großes Interesse an Übertragungen der Wettkämpfe. Die Internet-Technik war noch recht jung und steckte technisch in den Kinderschuhen. 1994 war Mark Crowther mit seinem Partienservice „The Week in Chess“ online gegangen. ChessBase folgte 1997 mit einer Schachnachrichtenseite und die Hamburger waren dann auch der Medienpartner des Lübecker SV für die Partien-Live-Übertragungen. Klimek hatte auch schon die Vision von Übertragungen, wie sie heute zumindest bei den Topturnieren Standard sind, also mit Live-Videobildern. Allerdings dachte er sich das damals für TV-Empfangsgeräte.
Nach dem dritten Meistertitel in Folge kam kurz vor dem Beginn der Saison 2003/2004 das unerwartete Aus. Mäzen Winfried Klimek engagierte sich inzwischen auch im Handball und war bei der Betriebsgesellschaft des Handball Sport Vereins Hamburg, der 2002 aus der Spielgemeinschaft von SG VfL Bad Schwartau-Lübeck hervorgegangen war, Hauptanteilseigner. Eine Zusage für die Fortführung seiner Unterstützung für den Lübecker SV für die Saison 2003/2004 zögerte er hinaus. Dann erhielt der Lübecker SV eine Mitteilung des Finanzamtes, dass die Übernahme der Reise- und Unterbringungskosten für die Profis steuerrechtlich als Sachleistungen zu bewerten wären und versteuert werden müssten. Angesichts der drohenden Zusatzkosten und der fehlenden Zusage des Sponsors zog der Lübecker SV die Reißleine und seine Mannschaft aus der Bundesliga zurück.
„Der kurzfristige Rückzug war bitter für unsere Spieler, weil sie so schnell keine neuen Vereine finden konnten“, bedauerte Eckhard Stomprowski das jähe Ende des Lübecker Höhenfluges. Die Lübecker Glanzzeit war Geschichte. Mit seinem Ausflug in den Handballsport hatte Winfried Klimek indes kein Glück. Die Betriebsgesellschaft geriet in finanzielle Schieflage, es gab Unregelmäßigkeiten. Auch Klimeks Rechtsanwalt Wolfgang Kubicki, FDP-Politiker und seit 2017 einer der Vizepräsidenten des Bundestages, konnte nicht verhindern, dass sein Mandant wegen Betrugs, Untreue und Insolvenzverschleppung für fünf Jahre in Haft musste.
Für den Lübecker SV war das plötzliche Ende der Profimannschaft bitter, aber das Vereinsleben ging weiter. Einige Titelträger, wie die Dänen Lars Bo Hansen, Henrik Danielsen oder Erling Mortensen, auch der in Wismar lebende Wladimir Jepischin, waren auch nach dem Rückzug des Sponsors noch eine Zeitlang weiter für Lübeck im Einsatz. Die 1. Mannschaft spielte in der Zweiten Bundesliga Nord. Und der Verein brachte eigene Talente hervor, von denen Rasmus Svane bisher das größte war. In der Saison 2010/11 war der damals 14-Jährige in seiner ersten Zweitliga-Saison schon einer der Leistungsträger. Inzwischen ist er in der Ersten Bundesliga beim Hamburger SK. Der Lübecker SV wurde im Laufe der Jahre allerdings doch mehr und mehr zur Fahrstuhlmannschaft und spielt seit der Saison 2015/16 in der 3.Liga. Frederik Svane ist nun in die Fußstapfen seines älteren Bruders getreten und vertritt den Verein an einem der Spitzenbretter.
In einem Portrait des Lübecker SV sollte man nicht unerwähnt lassen, dass seine Schachfreunde sich organisatorisch auch überregional beteiligt haben und noch beteiligen. Ullrich Krause hatte wie sein Lübecker Vorgänger Dr. Steen das Amt des Präsidenten von Schleswig-Holstein übernommen, inzwischen ist er Präsident des Deutschen Schachbundes. Sein erstes Amt war 1988 die Aufgabe des 2. Jugendwartes im Lübecker SV. Dann wurde er Jugendwart (1989), dann Präsident des Vereins (2001). 2008 richtete der Lübecker SV nach 60-jähriger Pause wieder eine Landeseinzelmeisterschaft aus, 2016 die Deutsche Schacheinzelmeisterschaft. Der Verein war kurzfristig eingesprungen, nachdem sich kein anderer Ausrichter gefunden hatte.
Das Spiellokal des Lübecker SV in einem Gewerbehof in der Sophienstraße 19-21 ist im Prinzip jeden Tag geöffnet. Der eigentliche Spielabend ist freitags. In der Woche treffen sich Senioren und Jugendliche zum Spiel oder Training. Die Vereinsräume sind großzügig und gut ausgestattet. Für das Jugendtraining wurde ein Whiteboard angeschafft, auf dem man Trainingsmaterialien zeigen kann. Während des Corona-Lockdowns ruhte der Betrieb, aber in Schleswig-Holstein darf man inzwischen die Schachclubs wieder besuchen. Von den über 200 Mitgliedern des Vereins sind 80 Jugendliche. Eckhard Stomprowski war bei vielen ihrer Turniere der Turnierleiter. Das war er schon, als ihre Eltern geboren wurden.
André Schulz (andreschulz@hamburg.de)
DSB-Beauftragter für Schachkultur und Schachgeschichte
// Archiv: DSB-Nachrichten - Schachgeschichte // ID 23686