26. Juni 2017
Ein Hauch von Fernweh und exotischen Landschaften weht durch die Pausenhalle der Integrativen Grundschule Grumbrechtstraße. Und das, obwohl es hier doch eigentlich nur um Schach geht. Allerdings unter ziemlich ungewöhnlichen Vorzeichen: An diesem Freitagnachmittag im Mai 2017 messen sich die Heimfelder Kids im "Senterej", und das ist eben eine sehr spezielle Version des Königlichen Spiels - die sich nämlich vor Jahrhunderten im damaligen Kaiserreich Äthiopien entwickelt hat.
Ein echt afrikanischer Beitrag zur Kultur des Denksports, den bestenfalls eine Handvoll Experten kennt. Und den Schachlehrer Jürgen Woscidlo um so lieber in sein Unterrichtsangebot aufgenommen hat: "Senterej ist eine wirkliche Entdeckung," sagt der 50-jährige. "denn die Jugendlichen erfahren quasi spielerisch auch etwas über eine äußerst spannende Region im östlichen Afrika." Und das sei hoch aktuell in der Gegenwart globaler Migration.
Aber worin unterscheidet sich eigentlich das ominöse Senterej vom Mainstreamschach? In der afrikanischen Ausgabe werden die sonst standardmäßigen "Läufer" von robusten Elefanten ersetzt, die nach Erhalt des Einsatzbefehls auf den Diagonalen nur in das jeweils übernächste Feld stampfen - wobei sie immerhin verblüffend artistisch dorthin auch springen(!) können. Und den äthiopischen "Negus", so die Originalbezeichnung für die Königsfigur, begleitet auf dem 64-Felder-Plan an Stelle einer dominanten "Dame" bloß ein devoter Minister mit deutlich eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten; der beflissene "Fers" schafft es pro Schlagwechsel gerade mal in das Nachbarfeld auf den konkreten Schrägen, die ihm zugewiesen worden sind.
Der wirkliche Clou ist freilich eine wilde Phase am Anfang einer Senterej-Partie. Dann regiert der gefühlt totale Ausnahmezustand des "Werera", übersetzt "Mobilisierung": Die beiden Matchteilnehmer dürfen eigene Truppenteile maximal schnell in günstige Positionen dirigieren, ohne erst auf die jeweiligen Reaktionen der anderen Partei warten zu müssen. Bis endlich der erste Stein vom Brett genommen wird, das aktiviert sofort den sonst üblichen Spielrhythmus aus Zug und Gegenzug.
Zu weiteren Unterschieden zwischen Standardschach und Äthiopiens Senterej und dem historischen Hintergrund hat ChessBase einen ausführlichen Report veröffentlicht:
Das oft chaotische Werera verlangt Übersicht, Nervenstärke und flinke Finger. Ein Megaspaß für die Mädels und Jungs, die im Senterej-Turnier starten, das Jürgen Woscidlo organisiert hat: Türme, Pferde und Elefanten wirbeln durcheinander, und manch fröhliches Gemetzel ist schon entschieden, bevor die Zuschauer überhaupt begriffen haben, wer vorne liegt.
Und über allem wacht eine schöne Frau mit prächtigem Diadem, das Poster an einer Stellwand zeigt Äthiopiens einstige Kaiserin Taytu Betul (1851-1918). Weil Turnierdirektor Jürgen Woscidlo sein ohnehin nicht gerade alltägliches Event wie schon im Mai 2016, als er zum ersten Mal einen Senterej-Wettkampf realisierte, jener durchsetzungsstarken Herrscherin gewidmet hat, die 1896 gemeinsam mit ihrem Gatten Menelik II. in die Schlacht von Adwa ritt und eine italienische Invasionsarmee besiegte. Und die ansonsten im gesellschaftlichen Umgang ausschließlich solche Männer akzeptierte, die neben erstklassigem Portfolio auch im Senterej zu überzeugen wussten.
Trotz dieser stolzen Vergangenheit ist das Äthiopien-Schach in seinem Mutterland kaum mehr präsent. Ein Zustand, mit dem sich der bekennende Senterej-Liebhaber Jürgen Woscidlo aber nicht abfinden möchte: "Das Spiel ist vital, reflektiert den African Spirit. Und darf nicht in Vergessenheit geraten!"
Deswegen hängt er sich voll rein in das Projekt, ein Revival des Senterej auf den Weg zu bringen. Ein zweifellos ambitioniertes Vorhaben, an dem übrigens auch der Autor René Gralla einen gewissen Anteil hat: Als der Verfasser dieser Zeilen während seiner regelmäßigen Besuche in der Schule Grumbrechtstraße den Kids und ihrem Lieblingslehrer Jürgen Woscidlo irgendwann mal vorschlug, spaßeshalber den traditionellen Denksport der Äthiopier zu testen, waren alle sofort Feuer und Flamme - und seitdem ist Senterej aus Jürgen Woscidlos Schachstunden nicht mehr wegzudenken.
Mit dem Highlight einer echten Weltpremiere: das "Kaiserin Taytu Betul-Memorial" am 13. Mai 2016 dürfte das erste Senterej-Turnier überhaupt gewesen sein, das außerhalb der Landesgrenzen auf die Beine gestellt worden ist. Das regionale Elbe-Wochenblatt widmete dem gewissermaßen historischen Ereignis fast eine ganze Seite, hier das Feature im Web:
Und das schlug Wellen bis ins ferne Addis Abeba. Der führende Äthiopienwissenschaftler Professor Richard Pankhurst (ist inzwischen leider im Alter von beinahe 90 Jahren am 16. Februar 2017 verstorben) und seine Frau Rita sandten eine enthusiastische Email: "Es hat uns sehr glücklich gemacht, von Ihrer großartigen Initiative und dramatischen Vision zu hören. Senterej ist tief verwurzelt in Äthiopiens Kultur, und es ist wunderbar zu erfahren, dass es außerhalb Äthiopiens wiederbelebt wird. Wir hoffen, dass dies ein Anfang ist und dass weitere Turniere in der Zukunft geplant werden."
Eine Hoffnung, die sich offenbar zu materialisieren beginnt. Nach dem viel beachteten Relaunch sucht gut zwölf Monate später jetzt auch die Hamburg-Heimfelder Folgeveranstaltung "2. Kaiserin Taytu Betul-Memorial" einerseits wieder ihresgleichen im internationalen Vergleich, begründet aber andererseits zugleich den Anfang einer kleinen eigenen Traditionslinie.
Hier der aktuelle Bericht im Elbe-Wochenblatt:
www.elbe-wochenblatt.de/harburg-city/lokales/weltweit-ungewoehnliches-schachturnier-d45672.html
Hoch erfreut hat darauf die äthiopische Botschaft in Berlin reagiert, übermittelt ein Grußwort des Kulturattachés Tewodros Girma und lädt ein zu weiterführenden Gesprächen, um die Senterej-Initiative auf die Ebene einer langfristig angelegten Unternehmung zu heben.
In Hamburgs südlichem Quartier wird womöglich ein neues Kapitel afrikanischer Schachgeschichte aufgeschlagen. Eine irre Story, die natürlich nie erzählt werden könnte ohne Heimfelds begeisterungsfähige Teen-Generation: Nach hart umkämpften fünf Runden triumphiert der 11-jährige Ghreesham Manjunath im Tie-Break vor dem zweitplatzierten Elefterios Petridis (10). Während Supertalent Veenit Kolli einen Sonderpreis nach Hause trägt - als jüngster Teilnehmer mit erst vier(!) Jahren.
Und Schach-Guru Jürgen Woscidlo? Der bereitet den nächsten Schritt vor: eine Senterej-Demonstration im Rahmen des Afrika Festivals 2017, voraussichtlich im August in der City von Hamburg-Altona.
Dr. René Gralla
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 22087