6. November 2013
Als Schachspieler weiß man im Moment gar nicht, wo man seinen Kopf zuerst hindrehen soll – überall ist etwas los! In Bremen steht die nächste Runde im Dähne-Pokal und ebenfalls der Werder-Monatsblitz an, und (global gesehen wohl etwas bedeutsamer) ein junger Norweger ist gerade nach Indien gereist, um Anand, dem Tiger von Madras, die Weltmeisterkrone zu entwinden. Doch auch im nahen Europa passiert eine Menge – genauer gesagt, im schönen Polen, wo ab dem kommenden Donnerstag die Druzynowe Mistrzostwa Europy w Szachach stattfinden werden, die Europameisterschaften der Mannschaften.
Die Älteren unter uns werden sich vielleicht noch erinnern – bei diesem starken Wettbewerb ist das deutsche Herren-Team (und Achtung!) Titelverteidiger, der amtierende Meister sozusagen, Bester der Besten. Tatsächlich ist es erst zwei Jahre her, dass der deutsche Vierer als formidabler Außenseiter Runde um Runde im griechischen Porto Carras gewann und am Ende sensationell die Mannschaftskrone in die DSB-Geschäftsstelle nach Berlin entführte. Im Team standen damals Arkadij Naiditsch, Georg Meier, Daniel Fridman, Jan Gustafsson aus Hamburg und Rainer Buhmann -da blieb den favorisierten Russen, Armeniern, Franzosen, Chinesen und selbst der Mannschaft Montenegros nur der Blick auf die weiteren Platzierungen. Was für ein Turnier - hurra!
Ja, ja, das war mal was. Die Begeisterung war groß – wenn leider auch nur in Schachspielerkreisen, denn außerhalb der Schachszene wurde der EM-Titel fast gar nicht registriert. Auch gab es wie so oft im Schach nicht den Hauch eines Booms nach dem großen Erfolg, sondern vielmehr den einen oder anderen eDoping-Skandal, und nun, nachdem zwei Jahre vergangen sind, ist der fantastische Titelgewinn schon beinahe wieder vergessen. War da was?
Wie schon vor zwei Jahren ist Team Germany auch diesmal in Warschau kein großer Favorit auf die Pole(n) Position, wenn ab Freitag die ersten Züge gespielt werden. Sicher kann man wieder mutige Wetten abgeben, doch einmal mehr stehen die üblichen Verdächtigen oben auf der Setzliste – Russen, Armenier, Franzosen und die Ukraine. Deutschland tummelt sich hier auf Platz 10, knapp vor dem Gastgeber Polen, und das ist im Vergleich zum gesamten Feld der 37 Mannschaften so ungefähr das vordere Mittelfeld. Doch ist das nicht auch ein Grund zum Durchatmen? Die deutschen Turnierkrokodile können als Zehnter fast unbeschwert und ohne Druck nach Polen reisen und sich ganz entspannt auf die neunrundige EM freuen. Titelverteidiger sein ist schön und gut – aber für dieses Mal werden die Karten neu gemischt, und wenn es nicht so laufen sollte wie neulich in Porto Carras, egal! Den Titel von 2011, den behalten wir einfach. Und schön war's!
Um bereits heute eine fundierte Prognose für die EM abgeben zu können, habe ich mir erlaubt, sämtliche neun Runden der Europameisterschaft mit meinem alten Mephisto III- Computer schon einmal vorzuspielen. Mephisto III und ich simulierten dabei alle Mannschaftskämpfe im Blitzmodus, und das hat alles auch ein bisschen gedauert, aber laut unserer umfassenden Feldstudie wird Belgien in der zweiten Runde mit 2,5:1,5 gegen Wales gewinnen, und die deutsche Équipe holt zum Auftakt zwei schöne Punkte gegen China. Nach neun Runden allerdings wird laut Mephisto Frankreich ganz oben stehen, und Deutschland landet auf einem unerfreulichen 14. Platz. Schade. Doch keine Sorge – es war ja nur eine Simulation!
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In Polen freut man sich – Europa kommt zu Besuch! Nach der zusammen mit der Ukraine ausgetragenen Fußball-EM 2012 ist dies eine weitere sportliche Top-Veranstaltung bei unseren östlichen Nachbarn. Wie der Turnierseite zu entnehmen ist, ist die kommende EM das stärkste Schachereignis auf polnischem Boden seit 1935 – damals fand in Warschau die Schacholympiade statt.
Schach in Polen hat ja eine große Tradition. Wir denken gerne an Akiba Rubinstein, den großartigen Meister, der einst nur durch unglückliche Fügungen nicht zu seinem WM-Kampf gegen Emanuel Lasker (Team Germany) kam. Miguel Najdorf, berühmt für seine sizilianische Hauptvariante, stammte aus der Nähe von Warschau und musste als Jude wie so viele Polen im Zweiten Weltkrieg vor den furchtbaren Deutschen flüchten. Er hatte Glück und fand eine neue Heimat in Argentinien. Auch Dawid Janowski und der nahe Łódź zur Welt gekommene Samuel Reshevsky waren Polen, und beide spielten sie in ihrem Leben um die Weltmeisterschaft mit. Wenn das nichts ist – was für ein Schachland!
In neuerer Zeit war natürlich Michal Krassenkow einer der prägenden polnischen Meister – leider aber findet man ihn nicht auf der Meldeliste für die aktuelle EM. Dort allerdings stehen mit Bartosz Socko und Mateusz Bartel zwei auch hierzulande gut bekannte Spieler. Auch bei den Frauen gibt es eine Spielerin namens Socko – Monika Socko nämlich, sie besetzt diesmal das zweite Brett der polnischen Damen-Mannschaft und sorgte unter anderem schon 2005 im schwedischen Göteborg dafür, dass ihr Team vor Georgien und Russland Europameister wurde. Gratulation!
Abschließend noch ein direkter Blick auf das Schachbrett, und hier auf die Polnische Verteidigung 1.d2-d4, b7-b5!
Ob wir diesen feinen Zug auch in Warschau sehen werden, vielleicht von Arkadij Naiditsch? Die Polnische Verteidigung wurde ja schon oft gespielt (wenn auch nicht immer mit Erfolg). Tatsächlich ist sie ein bisschen verwandt mit der Sokolski-Eröffnung 1.b2-b4, die darum auch „Polnisch im Anzug“ heißt. Der weise Savielly Tartakower wiederum nannte 1.b2-b4 scherzhaft den „Orang-Utan“, und genau dieser Tartakower hatte – wir ahnen es - eine polnische Mutter. Ich weiß zwar nicht, was das bedeuten soll, aber so schließt sich der Kreis – in Polen hat irgendwie alles mit Schach zu tun. (Man will nicht ausschließen, dass selbst der polnische Papst Johannes Paul II gelegentlich für die Betriebssportmannschaft des Vatikan am Brett saß – aber nur, wenn es das Abendmahl zuließ.)
Mehr Schachsport demnächst in Warschau – freuen wir uns darauf! Aber vorher erst noch …. der Werder Monatsblitz am Donnerstag, na klar.
Olaf Steffens
Olaf Steffens ist FIDE-Meister, wohnt in Bremen und spielt dort für den SV Werder in der Zweiten Bundesliga. Obwohl das Schachspiel eigentlich viel zu schwierig für ihn ist, versucht er es immer wieder und schreibt darüber zusammen mit anderen auf www.schach-welt.de.
Während der Europameisterschaft in Warschau schreibt er für den Deutschen Schachbund.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 9222