4. März 2016
Beim Lesen von Bernhard Kagans Nachruf zum Gedenken an seinen „treuen und unermüdlichen Mitarbeiter“ im 2. Sonderheft der Neuesten Schachnachrichten 1924 nimmt man förmlich dessen Betroffenheit wahr: „Infolge seiner Krankheit waren seine Nerven vollständig zerrüttet und er machte tatsächlich den Eindruck, daß er diesen Zustand für die Dauer nicht wird aushalten können. Infolge der Arterienverkalkung, an der er litt, stellten sich Schwindelanfälle ein und es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß er infolge eines derartigen Anfalles das Gleichgewicht verloren hat und aus dem Fenster gestürzt ist. In v. Bardeleben verlieren wir nicht nur einen befähigten Schachmeister, hervorragenden Theoretiker, vorzüglichen Schachlehrer und populärem Schriftsteller, sondern auch eine Mann, der in allen Schachkreisen, in denen er verkehrte, sehr beliebt war, aber auch bemitleidet wurde. Jeder seiner Gönner versuchte ihm zu helfen und zu unterstützen. Seit Jahren wohnte er in einer Pension, wo er ein beheiztes Zimmer hatte. Der Inhaber des Pensionats hat die denkbar größte Rücksicht genommen und für Nahrung wurde genügend gesorgt, so daß von einem Hungertod keine Rede sein konnte.“
Mit diesen Aussagen bemühte sich Kagan redlich, der in Berliner Zeitungen kolportierten Meinung entgegentreten, der völlig verarmte Schachmeister, der am 7. Februar 1924 auf dem Anstaltsfriedhof der Stadt Berlin anonym im Massengrab beigesetzt wurde, sei aus schierer Verzweiflung in den Tod gesprungen.
Selbst das „in den letzten Zügen“ liegende Deutsche Wochenschach, namentlich sein Redakteur Heinrich Ranneforth, ging im Heft 3 (15.Februar 1924) mit dem unglücklich aus dem Leben Geschiedenen nicht eben zimperlich um: „ (…) Herkunft und Begabung ließen ihn für eine hohe Staatsstellung prädestiniert erscheinen, aber sein Mangel an Willen und Charakterstärke wurden ihm zum Verhängnis. Der angehende Jurist erlag, der Kontrolle der Familie entrückt, während seiner Studienzeit völlig dem verführerischen Schachspiel. (…) Vertrauensselig und bar aller praktischen Lebenserfahrung erlebte er viele Enttäuschungen, aber seine Gleichgültigkeit und Charakterschwäche vereitelten auch alle wohlgemeinten Versuche, ihn einer geregelten bürgerlichen Tätigkeit zuzuführen und ihm dadurch eine sichere Grundlage für die Existenz zu schaffen. (…) es hätte sich mit ihr vor allem der ernste Wille zum Leben und zur Leistung vereinen müssen, wenn sie sich hätte lohnen sollen. Daran gebrach es v. Bardeleben völlig, und nicht minder an jeder Voraussicht über den jeweiligen Tag hinaus. So kam es, daß er zuletzt nur noch auf Unterstützungen angewiesen war, die ihm in mannigfacher Form zuteilwurden, aber bei dem von Natur bescheidenen und scheuen Manne die Lust zum Leben nicht zu steigern vermochten. Seine Gemütsverfassung wurde immer verworrener und ein Sturz aus dem Fenster hat einem verfehlten Leben ein Ende gemacht.“
Offenbar hielt Ranneforth wenig von „de mortuis nil nisi bene“, und irgendwie gewinnt man den Eindruck, dass ihm, stets erklärter Feind des professionell betriebenen Schachspiels, der adlige Bohémien Curt von Bardeleben in seinen früheren, d.h. besseren Zeiten, mal gewaltig „in die Quere“ gekommen war. Sicherlich hätte der posthum für die Verfehlung eines bürgerlichen Lebens Gescholtene nur ein blasiertes Lächeln für diese kleinkarierten Anwürfe gehabt.
Curt von Bardeleben entstammte einem Magdeburgischen Uradelsgeschlecht, das 1159 mit Heremanus de Bardenlove erstmals urkundlich erwähnt wurde. Seine Familie war angesehen und durchaus vermögend, der Vater Richard von Bardeleben (1821–1896) wurde Direktor des einflussreichen Literarischen Bureaus im preußischen Staatsministerium, somit der amtlichen Pressestelle der Regierung. Eine der Aufgaben war es die Regierungsmeinung möglichst unauffällig über die Presse in die Öffentlichkeit zu streuen. Hauptmittel dazu waren Subventionen für Journalisten sowie kostenlos erhältliche „Correspondenzen“ (Abdrucke) der neuesten Regierungsmeldungen.
Über die Mutter Anna von Bardeleben, geb. Wilhelmy (1836–1903) wurde wenig bekannt, der Vater dominierte offenbar die Erziehung des einzigen Sohnes. Bald nach dessen Geburt war die Familie nach Weimar umgezogen, wo dem „aufgeweckten Knaben eine zwar sorgfältige, aber in vieler Hinsicht sehr verfehlte Erziehung zuteilwurde.“ Diese Einschätzung stammt von vier Jahre jüngeren Jacques Mieses (1865-1954), dem Kagan breiten Raum im erwähnten Sonderheft der KNSN einräumte. Das erscheint mir durchaus authentisch, denn der Leipziger Gymnasiast Jakob Mieses war nachweislich am 10.Juni 1881 über von Bardeleben in die Leipziger Schachgesellschaft Augustea eingeführt worden. Über viele Jahre pflegten sie in Berlin und Leipzig eine freundschaftliche Beziehung und brachten 1894 das gemeinsam erstellte Lehrbuch des Schachspiels, „aufgrund des gegenwärtigen Standes der Theorie und Praxis“ im Verlag von Veit & Co, Leipzig heraus.
Von Bardeleben selbst hatte als Zehnjähriger das Schachspiel von seinem Vater erlernt, der ihn am 20. März 1877 in die Augustea einführte
Noch beeindruckender erscheint hingegen die Tatsache, dass Johannes Metger in seiner „Persönlichen
Erinnerung an C. v. Bardeleben“ (ebenfalls KNSN 1924, Sonderheft Nr.2) auf dessen Teilnahme an der Anderssen-Feier am 18.Juli 1877 in Leipzig abhebt: „Ich lernte den verstorbenen v. Bardeleben im Jahre 1877 bei der Anderssen-Feier in Leipzig kennen. Sein Vater hatte ihn, den 16½jährigen Sekundaner, dorthin als Kiebitz mitgenommen. Es war damals schon bekannt, daß der junge v. Bardeleben sich am Hauptturnier hätte beteiligen können, denn er hatte in freien Partien schon eine achtbare Spielstärke bewiesen, aber der Vater verbot das Mitspielen. Auch vom freien Turnier mußte er zurücktreten, weil der Vater für seinen zarten, schwächlichen Sohn das Turnierspiel als zu anstrengend erachtete.“
Diese Passage veranlasste mich zur näheren Betrachtung des bekannten Gruppenbildes, was mich zur erstaunlichen Erkenntnis brachte, dass hier Vater und Sohn in vorderster Reihe postiert sind. Die bislang bekannte Zuordnung ist offenbar falsch.
Zum Verhältnis Vater und Sohn und die Konsequenz daraus weiß Mieses Ungutes zu berichten, fast liest es sich wie ein psychologischen Gutachten: „Um Curt v. Bardeleben mit allen seinen Eigentümlichkeiten und Schwächen richtig zu verstehen, muß man eigentlich den Vater gekannt haben. Dieser, eine stattliche Erscheinung, hochgebildet, überaus temperamentvoll, gutmütig, aber jähzornig, autokratisch, keinen Widerspruch duldend, dabei mitunter zu etwas schrullenhaften Ansichten neigend, war in jeder Hinsicht, körperlich wie charakterlich, das krasse Gegenstück zu seinem Sohne, auf dem er mit seiner väterlichen Zuneigung wie ein Alp lastete. Er führte ein gesellschaftlich recht zurückgezogenes Leben, und eine seiner Lauen war es, den Knaben zunächst gar nicht in die Schule zu schicken, sondern dessen ganzen Unterricht selbst zu übernehmen. (…) Er beging damit einen höchst verhängnisvollen pädagogischen Mißgriff, denn ein Kind gehört zu Kindern. (…) So aber blieb (unser Bardeleben) bis zu seinem 15.Lebensjahre auf seinen Vater als den einzigen Umgang angewiesen. Der Einfluß der Mutter, deren schüchterner Charakter sich auf den Sohn vererbt hatte, war gegenüber der dominierenden Persönlichkeit des Vaters ohne alle Bedeutung. (…) Ein weiterer schwerwiegender Fehler des Vaters bei der Erziehung seines Sohnes war, daß er dessen körperliche Ausbildung, wie Turnen und Schwimmen, völlig vernachlässigte. (…) Erst mit 15 Jahren kam er, linkisch, schüchtern und körperlich verzärtelt, auf das Gymnasium zu Weimar. Obwohl er keineswegs ein fleißiger Schüler war, so erlangte er doch bei seiner leichten Auffassungsgabe und seinem guten Gedächtnis in vorgeschriebener Zeit das Reifezeugnis und bezog dann die Leipziger Universität. (…) Die Freiheit, die ihm etwas Neues, Ungewohntes war, wurde ihm zu Verhängnis. Seine vorherige Unselbstständigkeit schlug in Zügellosigkeit um. Dem Wunsche oder Befehle seines Vaters folgend, wählte er die Jurisprudenz als Studium, ohne hierfür eine Neigung zu haben. So ergab er sich denn einem sorglosen Bummelleben, worin das Schachspiel das einzige geistige Rückgrat bildete.“
Hier verzeichnete der Zwanzigjährige für drei Jahre solche eminenten Erfolge, dass ihn Leopold Hoffer im The Chess Monthly Dezember 1888 auf eine Stufe mit Paul Morphy stellte:
„ Since Morphy there is perhaps no other young player whose record of success can be compared with that of v. Bardeleben. He has played in four tournaments as a youth, and in two he was first, and in the others placed.”
Hoffer spielte auf die Siege im Hauptturnier des zweiten deutschen Schachkongresses Berlin 1881 und im sogenannten Vizayanagaram-Turnier, London 1883, sowie auf die Platzierung unter den Preisträgern in den Meisterturnieren der DSB-Kongresse in Nürnberg 1883 und in Frankfurt 1887. Im Jahr 1884 war von Bardeleben zur Berliner Universität gewechselt und hatte auf väterliche Druck sein Studium formal fortgesetzt. Immer wieder geriet er in finanziellen Schwierigkeiten, die von seinem Vater letztlich aufgefangen wurden. Dies führte zu unerfreulichen Streitigkeiten, und entgegen der in der Schachwelt vertretenen Meinung war Bardeleben stets in Geldnöten.
Höchst bedenklich – laut Mieses – wurde seine wirtschaftliche Lage, als wenige Jahre nach dem Tod des Vaters das mütterliche Vermögen durch fehlerhafte Geldanlagen verloren ging.
Mieses bescheinigte seinem Berufsmeister-Kollegen feine, liebenswürdige Manieren und einen einzigartigen Einstieg in der Schachwelt: „Leipzig war damals neben Berlin die Hochburg deutschen Schachlebens. Hier waren altbekannte Meister wie Lange, Flechsig, Minckwitz, Schurig wohnhaft, zu denen sich noch eine große Menge recht tüchtiger Amateure gesellte. Ihnen allen zeigte sich der jugendliche Bardeleben sehr bald ebenbürtig und sogar überlegen, und zwar überlegen nicht an Spieltechnik oder Kombinationskraft, sondern durch tiefere Auffassung, durch feineres Positionsverständnis, mit einem Worte: durch seinen modernen Stil. (…) Aus seinen Partien wehte ein neuer Geist, und darin lag das Geheimnis seiner frühzeitigen Erfolge. Dabei war sein theoretisches Wissen außerordentlich groß, und in vielen Eröffnungen betätigte er seine eigenen, durch tiefes analytisches Studium begründeten Ansichten. (…) Trotz einer gewissen Nüchternheit waren seine Partien für den Kenner immer interessant, weil ihnen eine starke persönliche Note anhaftete. Verwickelte, unübersichtliche Kombinationen, ja überhaupt allen riskanten Unternehmungen gegenüber zeigte er eine misstrauische Reserve, und daß er in diesem Punkte oft etwas zu weit ging, muß wohl als die relativ schwache Seite seines Stils bezeichnet werden. (…) Ohne Zweifel gehörte v. Bardeleben im Jahre 1888 zu den stärksten Spielern der Welt. Eine glänzende Schachlaufbahn schien dem erst 27jährigen Meister zu winken, und niemand, am wenigsten er selbst ahnte, daß er seinen Kulminationspunkt bereits erreicht hatte.“
Breslau 1889 und vor allem Dresden 1892 waren relative Misserfolge, die Vorkämpferschaft Deutschlands hatte von Bardeleben an Siegbert Tarrasch abtreten müssen.
Dies ist ebenfalls als ein Versuch anzusehen, die von Feenstra Kuiper fehlerhaft zugeordneten Namen richtigzustellen. Immerhin ist hier ein frühes Bildnis von Georg Marco zu finden und auch Moritz Porges. Ob die ganz links stehende Person tatsächlich der Herausgeber des Deutschen Wochenschachs, Albert Heyde, ist, wage ich zu bezweifeln.
Nochmals zu einem ganz großen Erfolg schien sich Curt von Bardeleben im großartig besetzten Meisterturnier im englischen Hastings im Sommer 1895 aufzuraffen, er führte mit 7,5 aus 9 Partien, und hatte in der folgenden Partie den Weltmeister Emanuel Lasker überzeugend besiegt.
Doch nach der weltberühmten Niederlage gegen Steinitz in Runde 10 trat eine für Bardelebens psychische Disposition typische Wende ein: Die Niederlage deprimierte ihn dermaßen, dass er eben noch die Teilung des letzten Preises erreichte. In den nächsten 25 Jahren beteiligte sich von Bardeleben mit wechselnden Erfolgen an etlichen Meisterturnieren, lediglich in Coburg 1904 bei 14. Kongress des Deutschen Schachbundes konnte er mit Swiderski und Schlechter den ersten Preis teilen. Oft lag er abgeschlagen im unteren Drittel der Tabelle.
Für seine zahlreichen Beiträge zur Schachliteratur trifft gewiss folgender Aphorismus zu: „Er war ein Talent, aber kein Charakter.“ Neben gediegenen Werken und Abhandlungen enttäuschte er bisweilen seine Leser durch minderwertige, für den Kenner seiner Klasse eher unwürdige literarische Ergüsse. Diesen Pamphleten war dann leicht anzumerken, dass sie ohne Interesse am Inhalt nur wegen des schnellen Gelderwerbes verfasst wurden.
In den Jahren 1887 bis 1890 war von Bardeleben Redakteur der Deutschen Schachzeitung, danach arbeitete er für kurze Zeit für das Konkurrenzblatt Deutsches Wochenschach.
Über Curt von Bardeleben kursierten schon zu Lebzeiten viele skurrile Anekdoten, für Mieses war er „ein amüsanter Gesellschafter, dessen eigenartige blasiert geistreiche Konversation im Kaffeehaus und am Biertisch oft Heiterkeit hervorrief. Er hatte viele Freunde und nur einen einzigen Feind: sich selber.“ Sein Fenstersturz soll den russischen Autor Vladimir Nabokov, der damals in Berlin lebte, zum Schluss seines 1930 erschienenen Romans Lushins Verteidigung inspiriert haben.
Michael Negele
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 20743