25. Oktober 2015
Im Anschluss an das Symposium „Schach in der DDR“ anlässlich „25 Jahre Vereinigung der beiden deutschen Schachverbände“ und an den Start der 2. WC for the Disabled in Dresden besuchten Dr. Michael Negele und ich vom 18. – 20. Oktober das polnische Städtchen Kórnik (sprich: „Kurnik“). Der Ort hat etwa 7.600 Einwohner und liegt 20 km südöstlich von Posen.
Lange beabsichtigt war der Besuch der Biblioteka Kórnicka PAN (Polska Academia Nauk = Polnische Akademie der Wissenschaften) im Schloß Kórnik, die den umfangreichen und äußerst wertvollen von der Lasa-Nachlass beherbergt. Relativ spontan ergab sich hingegen ein wertvolles informelles Treffen am Abend des 19.10. mit Vertretern der polnischen Schachföderation, die z.T. eigens aus Warschau angereist waren.
Der von der Lasa–Nachlass in der Bibliothek stellt für alle an der Geschichte des Deutschen Schachbunds Interessierten einen unschätzbaren Wert dar. Tausende von Originaldokumenten aus den intensiven Briefwechseln von der Lasas sind authentische Zeitzeugen des damaligen Geschehens. Außerdem ist der größte Teil der umfangreichen Schachbuchsammlung von der Lasas noch erhalten und zugänglich.
Es ist klar, dass sich angesichts der vorhandenen Fülle in der begrenzten Zeit von zwei Arbeitstagen nur wenige Schwerpunkte bearbeiten ließen. So konzentrierten wir uns zum Beispiel auf das fantastische Manuskript von Chapais, das 1780 in Paris von einem noch immer nicht identifizierten Autor verfasst wurde und als das erste, fundamentale Endspielbuch bezeichnet werden kann. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses 500 Seiten umfassende Werk in der Endspielliteratur nur selten erwähnt wird. Lediglich in Holland hat eine systematische Auswertung begonnen, die vor allem von Harrie Grondijs (Maastricht) vorangebracht wird. Seine Bücher zu speziellen Themen erfahren leider nur kleine Auflagen und sind deshalb schnell vergriffen. Praktikern sind sie (zumindest in Deutschland) weitgehend unbekannt.
Ein spezieller Aspekt war auf den Briefwechsel zwischen von der Lasa und William Henry Russ (1833-1866, New York) bezüglich einer Position aus dem Werk von Chapais gerichtet (König und zwei Springer gegen König und Bauer). Solch ein Austausch wurde zunächst durch logische Überlegungen (hb) angenommen und dank der Kenntnisse von Dr. Michael Negele rasch bestätigt. Später stellte sich heraus, dass schon Harrie Grondijs auf diesen Briefwechsel gestoßen war und teilweise veröffentlicht hatte. Die Lösung von Henry (so nannte sich Russ) wurde in der 4. Auflage des „Bilguer“ 1864 veröffentlicht. Zu dieser Thematik wird Anfang nächsten Jahres ein Aufsatz (von hb) erscheinen.
Spannend war es, die unzähligen Versuche von der Lasas nachzuvollziehen, das vermutlich verloren gegangene Buch von Francesc Vicent „Libre dels jochs partits dels schacs en nombre de 100, ordenat e compost per mi Francesch Vicent nat en la ciutat de Segorb e criat e vehi de la insigne e valerosa ciutat de Valencia“ in den Bibliotheken Europas und der Welt aufzuspüren. Dieses Werk gilt als die erste gedruckte Abhandlung über das moderne Schach und wurde am 15. Mai 1495 in Valencia von den deutschen Druckern Lope de Roca Alemany und Pere Trincher hergestellt. Sämtliche Kopien dieses Buches sind mittlerweile verschollen. Vicent war möglicherweise eine der treibenden Kräfte bei der großen Schach-Reform in Valencia nach 1475.
Website von José Garzon
Auf der Suche nach dem verschollenen Schachbuch
Viele weitere Papiere, die Forschungsstoff für viele Monate bieten, konnten gesichtet werden. Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass sich in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel ebenfalls eine öffentlich zugängliche und äußerst umfangreiche Sammlung von Schachwerken und Briefwechseln befindet, die aus den Nachlässen der Sammler Dr. Wilhelm Maßmann und Gerd Meyer gebildet wurde.
Ein zweiter Schwerpunkt des Besuchs in Polen bildete das erwähnte informelle Treffen mit Funktionären des Polnischen Schachverbandes. Dabei ging es um einige gemeinsame Projekte in den Jahren 2016 – 2018. Im nächsten Jahr besteht der Polnische Schachverband 90 Jahre, in 2017 besteht der Deutsche Schachbund 140 Jahre, und im Lasker-Jahr 2018 stehen die runden Geburtstage von Adolf Anderssen, Tassilo von Heydebrand und der Lasa sowie von Emanuel Lasker an. Also genug Anlässe, sich gemeinsam mit den polnischen Schachfreunden auf eine große Vergangenheit zu besinnen und daraus Kraft für die Zukunft zu schöpfen!
Die Autoren danken dem polnischen Schachhistoriker Thomas Lissowski und der Kuratorin der Sammlung, Monika Małecka für die herzliche Aufnahme und die großzügige Unterstützung während des Aufenthaltes.
Herbert Bastian
ergänzt durch Dr. Michael Negele (Beauftragter für Schachgeschichte und Schachkultur)
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 20382