19. Februar 2018
Vom 9. bis 13. Februar fand in Høvikodden nahe Oslo ein Schach960-Wettkampf zwischen Magnus Carlsen und Hikaru Nakamura statt, der als inoffizielle Chess960-Weltmeisterschaft deklariert wurde.
An den ersten 4 Tagen wurden jeweils zwei Partien absolviert. Die Bedenkzeit betrug 45 Minuten für 40 Züge, danach zusätzlich 15 Minuten für den Rest der Partie (ohne Zeitzugabe pro Zug!). Um möglichst Chancengleichheit zu gewähren, wurde jede Ausgangsstellung zweimal gespielt – einmal mit Magnus und dann mit Hikaru als Weißspieler. Auch wurde jeden Tag abgewechselt, wer in der ersten Partie mit Weiß begann.
Dieses Vorgehen wurde ebenso in den 8 Partien des Schlusstages praktiziert; die Bedenkzeit betrug am Finaltag 10 Minuten + 5 Sekunden pro Zug pro Partie.
Für einen Sieg in den „langsamen“ Partien gab es zwei Punkte (Remis: ein Punkt); in den flotten Schnellpartien am Schlusstag wurde ein Punkt pro Sieg (0,5 Punkte bei Remis) vergeben. Auf diese Weise konnten 24 Punkte errungen werden; 12,5 Punkt reichten also aus, um den Wettkampf zu gewinnen.
Schach960 erfreut sich zunehmender Beliebtheit, schätzen doch viele Anhänger dieser Version des Schachspiels – seit 2009 von der FIDE offiziell ins Regelwerk aufgenommenen -, dass eine spezifische Vorbereitung auf einen Gegner nicht erforderlich (und auch nicht möglich) ist. Bei 960 verschiedenen Ausgangspositionen ist es praktisch unmöglich, sich eine Theorie von Eröffnungsvarianten zu entwickeln und zu merken. Die Spieler müssen vom ersten Zug an eigenständig denken und kreative Ideen ausarbeiten, wodurch das Spiel wieder zum Probierstein des Gehirns (Goethe) wird.
Die Eröffnungsprinzipien, die vom klassischen Schach her bekannt sind, gelten für Schach960 genauso und sollten stets beachtet werden, damit man ausgangs der Eröffnung in ein etwa gleichstehendes Mittelspiel eintreten kann. Darüber hinaus sind vom ersten Zug an taktische und strategische Aufgaben zu lösen, wie wir sie vom klassischen Schach her kennen. Im Laufe des Mittelspiel gleicht die Stellung dann mehr und mehr einer ganz normalen Schachpartie.
Von Hikaru Nakamura war bekannt, dass er schon seit mehr als 10 Jahren immer wieder gerne an Schach960-Turnieren teilnimmt. Er galt seit seinem Sieg 2009 im Match gegen Lewon Aronjan im Rahmen der „Chess Classic Mainz“ als inoffizieller Weltmeister dieser Disziplin. Von Magnus Carlsen waren bislang nur wenige Schach960-Partien bekannt; die meisten hatte er in Internet-Duellen gespielt. Von daher konnte mit Spannung erwartet werden, ob Magnus Carlsen seine geringere Erfahrung im Schach960 gegenüber Hikaru Nakamura auszugleichen vermochte.
Nach vorsichtigem Abtasten in der ersten Partie (remis) ging Nakamura als Weißer in der 2. Partie mutig und kreativ zu Werke (3. Td1xd4; später Th1-h3-g3-c3-c7) und setzte Carlsen im frühen Mittelspiel ordentlich unter Druck, verpasste aber zweimal aussichtsreiche Fortsetzungen. Im Endspiel stand dann sogar Carlsen etwas besser; Nakamura glückte aber die Abwicklung in ein gleichstehendes Damenendspiel (remis).
Auch in Partie 3 kam der Amerikaner klar besser aus der Eröffnung. Nach frühem Damentausch taumelte Carlsen in ein Endspiel, in dem wohl auch er als weltbester Endspielpraktiker keine Chance gehabt hätte, wenn bei Hikaru Nakamura nicht die Gier durchgebrochen wäre. Ein Bauernraub entpuppte sich als Bumerang: Hikarus Th1 war lange Zeit noch nicht wettkampfbereit; Carlsen bekam mehr und mehr Kompensation und am Ende musste Nakamura froh sein, noch das remis erreicht zu haben.
Ungewöhnliche Stellungsbilder kamen in der Eröffnung der 4. Partie aufs Brett. Erneut erschienen die Aussichten von Nakamura (Schwarz) besser. Doch statt den Damenflügel anzuvisieren, versuchte er, Drohungen gegen den weißen König aufzustellen, was aber nicht ansatzweise gelang. Carlsen übernahm die Initiative und gewann das Endspiel sehenswert.
Durch eine brilliante Verteidigungsleistung konnte Nakamura in der 5. Partie ausgleichen. Carlsen hatte nach einem Bauernopfer eine optisch bedrohliche Angriffsstellung aufgebaut. Beginnend mit 2 coolen Turmzügen (12. Te8-e7; 13. Tf8-f7) wurde der weiße Angriff aber überzeugend zurückgeworfen und Schwarz gewann völlig verdient.
Doch in Partie 6 schlug Carlsen umgehend zurück: Sein überlegenes Stellungsverständnis in einer der geschlossenen sizilianischen Verteidigung ähnlichen Stellung führte zum Bauerngewinn. Trotz optisch schöner zentraler Bauernmasse hatte Weiß nie Kompensation.
Partie 7: Nakamura löst das Problem der „gleichfarbigen Springer“ ganz und gar unzureichend. Carlsen hat als Schwarzer schon nach der Eröffnung eine strategische klar bessere Stellung. Eine verborgene taktische Ressource wird von Nakamura nicht erkannt und er geht chancenlos ein. Eine Glanzpartie von Carlsen.
Partie 8: Carlsen kommt immer besser in Fahrt und befindet sich – nach erneut zweifelhafter Eröffnungsbehandlung von Nakamura – klar auf der Siegerstraße. Doch auf einmal kommt Sand ins Getriebe: Ein wichtiger Freibauer kann nicht gehalten werden und nach einer weiteren Ungenauigkeit verbleibt Carlsen nur das Endspiel Turm und Läufer gegen Turm. Für das, was dann passiert ist, kann wohl nur Carlsen selbst eine Erklärung abgeben: anstatt rechtzeitig die Uhr anzuhalten und das Remis zu reklamieren, spielt er weiter, bis die Zeit überschritten war! Sieg für Nakamura! Ein Schock für alle Carlsen-Fans. Damit lag Carlsen vor dem Finaltag nur noch 9:7 in Front und der Ausgang war völlig offen.
Wer nun gedacht hatte, dass der Bullet- und Blitzspezialist Nakamura in den flotten Schnellpartien (unerfahrene Schach960-Spieler empfinden den Modus „10 Minuten + 5 Sekunden“ als brutale Blitzpartie) zurückschlagen würde, wurde jedoch arg enttäuscht. Ein arger Patzer kostete ihm in Partie 9 eine Figur, und auch in Partie 10 sahen alle Kommentatoren und Zuschauer seine Felle schon davonschwimmen, als er positionell fast schon pleite stand; im Endspiel aber eröffneten sich überraschende Remis-Chancen, die der Amerikaner diesmal auch nutzte.
Hätte Nakamura (Weiß) in Partie 11 sein ideenreiches Spiel in einen Sieg verwandeln können, so wäre wohl noch alles möglich gewesen. Der schwarze König und seine verbliebenen Verteidiger waren angeschlagen oder schon „angezählt“ wie ein Boxer vor dem Knockout. Diesmal allerdings entschlüpfte Carlsen wundersam ins remis, und seine Festung hielt 138 Züge lang erfolgreich allen Angriffen stand !
Nach einer weiteren interessanten Remispartie fiel dann in der 13. Partie des Wettkampfes die endgültige Entscheidung: Nakamura als Schwarzer baut unnötiger Weise einen Stonewall; prompt gelingen die nachfolgenden positionellen Figurenmanöver dem Weltmeister viel besser und nicht zum ersten Mal in diesem Wettkampf hat Nakamura eine fürchterlich passiv stehende Dame. Nach einem durchaus kreativen Befreiungsmanöver erfasst er aber die Stellung nicht in ihrer Gesamtheit, übersieht beim Abtausch des schwarzfeldrigen Läufers den teuflischen Zug Ta1-a3, der die unglückliche Dame einsperrt und zum Partiegewinn führt!
Damit lag Carlsen uneinholbar mit 12,5 Punkten in Front. Die letzten 3 Partien (1½:1½) hatten somit für den Ausgang des Wettkampfes keine Bedeutung mehr. Immerhin gelang Nakamura in der 15. Partie noch ein sehenswerter Sieg in seinem typischen „Dschungelkämpfer“-Stil. Hätte er Carlsen öfter solche Stellungsbilder aufzwingen können, so wäre er sicher erfolgreicher gewesen. Carlsen's Sieg ist aus meiner Sicht hochverdient. Es hatte auf mich oft den Eindruck gemacht, dass er während der ersten der beiden mit jeweils gleicher Ausgangsposition gespielten Partie so viel über die Stellung gelernt hat, dass er in der zweiten Partie davon bereits profitieren konnte.
Und hier die Video-Zusammenfassungen der wichtigsten Partien des Wettkampfes:
Ulrich Zenker
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 22945