21. Dezember 2011
Dieser Auftritt hatte vielleicht etwas von der Dramatik eines bekannten Stückes von Friedrich Dürrenmatt. Bloß, dass nicht die fiktive verarmte Kleinstadt Güllen der Handlungsort war und eine alte Dame zu Besuch kam, um Gerechtigkeit einzufordern, die in einem Mord gipfeln sollte, sondern ein alter Mann in Lingen im Emsland eintraf, um das zu tun, was er sein Leben lang am besten konnte: Schach spielen und seine Begeisterung zu übertragen - vor allem auf junge Leute...
Am vergangenen Freitag (16. Dezember) um 18.13 Uhr stieg er nach neunstündiger Bahnfahrt kurz nach seinem ehemaligen Sekundanten Lev Gutman aus dem Zug - Viktor Kortschnoi. Und wer es immer noch nicht glauben wollte, weil er nicht Augenzeuge seiner Ankunft gewesen war, der konnte sich tags darauf morgens in der Neuen Osnabrücker Zeitung davon überzeugen, dass die Kortschnoi-"Festspiele" im Emsland tatsächlich stattfinden würden....
Den nun folgenden Exklusiv-Bericht einschließlich der beiden Partien von Viktor K. für die DSB-Homepage verdanken wir Anke Schaffrinna (Administratorin der Homepage, Pressewart) und Christian Möller (1. Vorsitzender) vom SV Lingen...
Ganz wichtig war uns, dass Viktor Kortschnoi seine jungen Mitspieler Thorben Kopp, Timo Oehne und Jannik Bach vor dem Mannschaftskampf schon einmal kennen lernen sollte. Diese Gelegenheit ergab sich bei einem gemeinsamen Abendessen mit dem sechsfachen Olympiasieger und zweifachen Vizeweltmeister. Nils Vonhoff konnte leider erst am Samstag aus seinem Wohnort Buchholz anreisen.
Am Samstag Vormittag fand um 11 Uhr im alten Kutscherhaus in Lingen zu Ehren des berühmten Gastes ein Empfang statt. Der Oberbürgermeister Dieter Krone begrüßte Viktor Kortschnoi persönlich und zeigte sich besonders beeindruckt von der Tatsache, dass es von dem berühmten Gast über 5.000 dokumentierte Partien gibt. „Eine unglaubliche Zahl, die eines deutlich macht: Schach ist Ihre Leidenschaft!“
Nachmittags um 16 Uhr begann dann in der Mensa des Gymnasiums Georgianum der Mannschaftskampf in der Bezirksliga. Gegner war die erste Mannschaft des SV Bad Essen. Wie erwartet gewannen unsere Spieler aus Lingen, doch die Punkte der beiden Großmeister Viktor Kortschnoi und Lev Gutman zum Endergebnis von 7:1 wurden erst erzielt, als ihre Mitstreiter schon für einen Mannschaftssieg gesorgt hatten.
39 Züge dauerte die Partie der lebenden Schachlegende an Brett 1, dessen Gegner Frank Höppner später zugab: „Ich war sehr nervös, habe mir aber auch auf die Begegnung gefreut. Die vielen Fotografen haben mich aber schon ein wenig abgelenkt.“ Ein besonderes Highlight für Höppner war die gemeinsame Analyse der Partie mit seinem berühmten Gegner.
Am Sonntag startete um 10 Uhr das Vierer-Pokalspiel gegen den derzeit Vierten der Oberliga Nord Staffel West SK Nordhorn-Blanke, der mit drei Stammspielern antrat. Paul ten Vergeert (sonst an Brett 3 eingesetzt) hatte sich mit Weiß zwei Wochen lang intensiv auf Französisch vorbereitet und freute sich, dass seine Vorbereitung tatsächlich aufs Brett kam. Doch die gut gespielte Eröffnung brachte ihm nichts. Viktor Kortschnoi nutzte eine Ungenauigkeit im 14. Zug und baute seinen Vorteil nach der Abwicklung in ein klar besseres Turmendspiel Zug um Zug aus. Im 30. Zug gab Paul dann in hoffnungsloser Stellung auf.
Wieder zeigte Viktor Kortschnoi, wie gerne er sein Wissen teilt. Er analysierte mit dem Jugendspieler Timo Oehne und mit Paul ten Vergeert seine gerade gespielte Partie.
Paul erzählte nach dem Spiel, er habe sich auf die Begegnung mit Viktor Kortschnoi gefreut und sich intensiv vorbereitet, besonders nervös sei er aber nicht gewesen.
Insgesamt endete das Landespokal-Duell (nach dem Remis von Thorben Koop am 3. Brett, einem Verlust von Jannik Bach am 4. Brett und einem Remis von Lev Gutman am 2. Brett) 2:2 unentschieden, doch unser SV Lingen hatte nicht zuletzt durch den Sieg seiner prominenten Neuverpflichtung die bessere Berliner Wertung (6,5:3,5), sodass die Nordhorner in Runde 2 ausschieden.
Sowohl beim Mannschaftskampf als auch beim Pokalspiel kamen auch die jeweils 60 bis 80 Zuschauer auf ihre Kosten. Sie bewunderten dabei nicht nur das Spiel des bald 81-jährigen Großmeister Viktor Kortschnoi, sondern sie konnten auch Autogramme von ihm erhalten. Bereitwillig signierte er seine Bücher und schrieb teilweise auch persönliche Widmungen hinein.
Unserer Nordhorner Kontrahenten hatten übrigens bei ihrem Liveblog im Internet aus der Mensa des Georgianum Lingen über 1000 Klicks verzeichnet - auch ein Beweis dafür, dass unser Verein an diesem Dezemberwochenende wirklich eine öffentlichkeitswirksame Schach-Veranstaltung gelungen ist.
„Für Aufsehen haben wir gesorgt“, war auch KSB-Präsident Michael Koop in seinem Statement in der NOZ hoch erfreut, eine „lebende Schachlegende“ begrüßen zu dürfen, „das ist für den Sport eine ganz wichtige Geschichte. Das wünsche ich mir auch für andere Randsportarten.“
Nun wird sicherlich die Frage kommen: Warum treten zwei so hochkarätige Schachspieler wie Lev Gutman und Viktor Kortschnoi in der Bezirksliga an? Die Antwort ist einfach: Dieser „Schachzug“ ist der Lotto-Sport-Stiftung zu verdanken, denn sie unterstützt das Lingener Projekt „Lingen 2012“. Ziel des generationsübergreifenden und integrativen Projektes ist es, Jugendliche an den Spitzensport heranzuführen. Lev Gutman arbeitet schon seit einem Jahr als Jugendtrainer des Vereins und hat die U14-Mannschaft des SV Lingen (ergänzt durch Trainingseinheiten mit anderen Spitzentrainern wie z.B. IM Christian Richter oder IM Jonathan Carlstedt) zur Landes- und Norddeutschen Meisterschaft geführt.
Auf die Frage, was es für sie bedeute, mit Viktor Kortschnoi in einer Mannschaft zu spielen und von Lev Gutman trainiert zu werden, antworteten die Jugendlichen:
„Sehr viel, denn es sind zwei erfahrene Großmeister, die schon sehr viel Ahnung von Schach haben.“ (Timo Oehne)
„Von ihnen kann man sehr viel lernen!" (Nils Vonhoff)
„Ich finde das sehr gut, dass die beiden überhaupt bei uns spielen. Sie können ja auch woanders spielen, wo sie stärkere Gegner kriegen als bei uns! Deswegen finde ich das sehr toll und ein Ansporn selber noch mehr zu trainieren!" (Jannik Bach)
„Es bedeutet für mich viel Arbeit und viel Zeit, um ihren Ansprüchen zu genügen, aber es motiviert mich gleichzeitig! Und Viktor Kortschnoi macht so einfache Züge, die man sich nicht traut zu ziehen, weil sie so normal sein." (Torben Koop)
Die Jugendlichen sehen also die Möglichkeiten, die sich ihnen durch das Projekt bieten, aber auch die Arbeit, die es mit sich bringt. Und sie sehen die damit verbundene Herausforderung nicht nur – sie nehmen sie auch an!
Wir sind nun gespannt, wie sich unsere Jungs bei der Deutschen Mannschaftsmeisterschaft in der kommenden Woche (26. bis 30. Dezember) schlagen werden. Immerhin sind wir als Gastgeber an Rang 2 gesetzt und besitzen sehr gute Medaillenchancen. Klar ist auch, dass sie mit Viktor Kortschnoi und Lev Gutman immerhin zwei Großmeister haben die ihnen die Daumen drücken! Und Lev, der den Coup mit Viktor K. eingefädelt hatte, wird sogar als Trainer vor Ort sein...
„Ich komme, um zu spielen. Ich nehme Platz und sitzte bis zum Ende der Partie“, hatte der alte Mann unmittelbar vor seinem Auftritt in Lingen in der NOZ erklärt.
Am Montag ist der Wahl-Schweizer um 9.44 Uhr in den Intercity nach Köln gestiegen, um von dort in aller Ruhe nach Wohlen bei Bern zurück zu fahren. Dort gehört er laut Wikipedia zu den 16 bedeutenden Persönlichkeiten der Gemeinde, zu denen auch der bekannte Schweizer Fußball-Nationalspieler Ciriaco Sforza zählt. Und wie aus wohl informierten Kreisen zu erfahren war, dürfte es im Gegensatz zu unserer alten Dame aus dem Theaterstück, die Güllen für immer den Rücken kehrt wird, für Viktor K. nicht der letzte Besuch bei seinen Jungs in Lingen im Emsland gewesen sein...
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 182