22. Februar 2016
So betitelte Ludwig Bachmann den Abschnitt IV seines zweiten Bandes von Aus Vergangenen Zeiten, in dem sich der Münchner Schachforscher der Entwicklung des Schachspiels in Deutschland und Österreich-Ungarn 1835-1860 widmete. Wie wenig Faktisches über den offenbar kaum drei Jahre nach Adolf Anderssen (1818-1879) in Breslau geborenen Daniel Harrwitz bis vor wenigen Jahren bekannt war, mag die Tatsache belegen, dass sowohl Geburts- als auch Sterbetag in Jeremy Gaiges Chess Personalia falsch sind.
Dort findet sich auf S. 163: *29.4.1823 in Breslau; † 9.1.1884 in Bozen.
Erst 2009 hatte der Südtiroler Schachforscher Dr. Luca D'Ambrosio die gut erhaltene Grabstätte von Daniel Harrwitz auf dem alten jüdischen Friedhof in Bozen entdeckt und die auf der Grabstele aufgefundenen „wahren“ Lebensdaten belegt und kommuniziert.
Es mag verblüffen, dass über einen der stärksten Praktiker bis auf reichlich überliefertes Partiematerial zu dessen Lebzeiten kaum Nennenswertes bekannt wurde. Immerhin hatte Emanuel Lasker 1932 in London gegenüber Philip W. Sergeant die Überzeugung vertreten, dass Harrwitz ein “Großer des Schachs” war, dem die moderne Spielergeneration jedoch nicht gerecht wurde. (A Century of British Chess, 1934, S. 60, Fußnote 2.) Laskers Meinung war durchaus fundiert, denn Harrwitz liegt mit seiner besten historischen Elo-Zahl von 2644 ab Januar 1853 bis Februar 1856 auf Platz eins der nachträglich berechneten Weltrangliste.
Trotzdem war dreißig Jahre später der Deutschen Schachzeitung (April 1884) die Nachricht von seinem Ableben nur eine nichtssagende fünfzeilige Notiz wert. Allzu schnell war Daniel Harrwitz, der seine aktive Zeit fast ausschließlich in Paris und London verbrachte, in Vergessenheit geraten.
Hingegen widmete Reverend William Wayte seinem acht Jahre älteren Weggefährten im British Chess Magazine April 1884 einen vierseitigen, einfühlsamen Nachruf, ohne dabei allerdings auf dessen familiäre Hintergründe eingehen zu können. Im Mai-Heft relativierte Wayte mit einigen persönlichen Briefen Harrwitz' aus den Jahren 1853 und 1854 die Ansicht von William Norwood Potter (BCM 1883, S. 243), dass „Harrwitz mit Sicherheit niemand war, der sein Innerstes jemanden Preis gab.“ Potter hatte Harrwitz bei dessen letzten London-Besuch 1877 persönlich kennengelernt und ihn bei Weitem nicht als den „stählernen Charakter, jene strahlend-glänzend scharfe Klinge“ wahrgenommen, als er ihm aus der zeitgenössischen Überlieferung erschienen war. Augustus Mongredien hinterließ in seinen autobiographischen Notizen (BCM Mai 1888): „Ein erstklassiger Spieler, wenn auch nicht gleichwertig mit Anderssen oder Morphy. Er hat das Pech, sowohl rechthaberisch als auch schlagfertig zu sein, ersteres verstrickte in ständige Auseinandersetzungen, durch letzteres konnten diese durchaus persönlich und verletzend werden. Ich kam sehr gut mit ihm zurecht, vielleicht weil er mich besiegte (London 1860, der letzte Wettkampf, den Harrwitz bestritt – MN.). Es waren in erster Linie jene, die er nicht schlagen konnte, die er hasste. Sein Streit mit Staunton war tödlich.“
Die ausführlichen Darstellungen seiner britischen Zeitgenossen seien um folgende Fakten ergänzt: Daniel Harrwitz stammte aus einer jüdischen Breslauer Kaufmannsfamilie, sein Vater Israel Harrwitz führte dort nachweislich bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein Tabak- und Zigarrengeschäft sowie Lotterie-Kollekte in der Albrechtstraße Nr. 3. (Vielleicht gab es im Haus Nr. 18 den Laden eines Bruder namens Hugo Harrwitz.)
Ein zwei Jahre älterer Bruder, der angesehene Berliner Buchhändler und Verleger Dr. Julius Hans Harrwitz (* 3. Oktober 1819 in Breslau, † 22. März 1875 in Berlin durch einen Unfall mit einem Pferdefuhrwerk) gab im Herbst 1862 in der damals renommierten Verlagsbuchhandlung Ferdinand Dümmler, Harrwitz & Gossmann das von Daniel Harrwitz sorgfältig erarbeitete, 335 & VIII Seiten starke Lehrbuch des Schachspiels heraus. Ein aus meiner Sicht vom deutschsprachigen Schachpublikum bislang unzureichend gewürdigtes Werk, durchaus auch als kommentierte Partiesammlung des Meisters anzusehen.
Die Stellung auf dem Titel gibt die meiner Kenntnis mächtigste „Zwickmühle“ aller Zeiten wieder, ein wahres „Kettensägen-Massaker“.
Eine mögliche Lösung: 1. Txg7 Txd1 2. Txg5+ Kh7 3. Tg7+ Kh8 4. Txe7+ Kg8 5. Tg7+ Kh8 6. Txd7+ Kg8 7. Tg7+ Kh8 8. Txc7+ Kg8 9. Tg7+ Kh8 10. Txb7+ Kg8 11. Txb8+ Kh7 12. Th8+ Kg6 13. Tg8+ Kh7 14. Tg7+ Kh8 15. Txa7+ Kg8 16. Tg7+ (Harrwitz: 16. Txa6 Txf1+ 17. Kg2 und Weiß gewinnt) 16. ... Kh8 17. Txd1 und Weiß steht klar auf Gewinn.
Das selten antiquarisch angebotene Buch ist digitalisiert im Internet zu erhalten.
Den Beweis der verwandtschaftlichen-Beziehung zwischen Verleger und Autor liefert ein etwas kryptischer Verweis im 1986 vom Leo Baeck Institut veröffentlichen Briefwechsel zwischen Julius Harrwitz und dem zum Sprachstudium 1854/55 in Paris lebenden Heymann Steinthal, einem der Begründer der Völkerpsychologie. Die Herausgeberin Ingrid Belke zitiert die folgende, ihr unverständliche Fußnote, die auf den Wettkampf Harrwitz-Löwenthal anspielte.
Über Daniel Harrwitz' Ausbildung und Werdegang ist so gut wie nichts bekannt, wahrscheinlich absolvierte er in Breslau eine Kaufmannslehre. Bisweilen liest man auch Buchhändler-Lehre, was auf einer Verwechslung mit der späteren Laufbahn seines Bruders beruhen könnte. Dieser hat 1840 am Elisabeth-Gymnasium (auf die gleiche Schule ging Adolf Anderssen bis 1838) das Abitur abgelegt, Naturkunde und Philosophie studiert und in Berlin über ein botanisches Thema (Schimmelpilze) promoviert.
Dass Daniel Harrwitz bereits in seiner Jugend auf Adolf Anderssen getroffen ist, lässt sich nicht belegen. Sicherlich hat er seine ersten Schachpartien in jenem Breslauer Café Häusler gespielt, das Anlaufpunkt aller lokalen Schachspieler gewesen ist. Sein Schachlehrer soll dort ein gewisser A. F. Schmidt gewesen sein, mir nur bekannt als Autor des Büchleins 120 Schachräthsel in Tabellenformat verfaßt und allen Schachspielfreunden gewidmet, 1830 in Breslau bei I. F. Korn erschienen.
Gut dokumentiert scheint hingegen der Beginn der professionellen Schachkarriere, denn Harrwitz begab sich 1845, also mit 24 Jahren - nach Paris, dem damaligen Schachzentrum Europas. Dort traf er auf den dortigen Lokalmatador, den Livländer Lionel Kieseritzky, mit dem er sich sowohl am Brett als auch im Blindspiel „gleichauf“ messen konnte.
Offenbar gaben die Pariser „Verhältnisse“ nicht genügend her, in den folgenden Jahren lebte Harrwitz in London, wo er sich auf einen skurrilen Wettkampf mit dem auf der Höhe seiner Leistungskraft stehenden Howard Staunton einließ: Es wurden 21 Partien gespielt, davon 7 gleichauf, in weiteren 7 Partien erhielt Harrwitz ein Bauer und Zug, schließlich in 7 Partien ein Bauer und zwei Züge Vorgabe. Es verwundert nur wenig, dass Staunton alle Partien ohne Vorgabe gewann, hingegen Harrwitz mit 6 zu 1 (bei einem Remis) die zweite Kategorie für sich entschied. Rätselhaft erscheint hingegen die Tatsache, dass Staunton in der dritten (höchsten) Vorgabestufe mit 4 zu 3 obsiegte.
Schon Ende 1847 hatte Harrwitz, der Williams, Walker, Horwitz und Medley jeweils in Wettkämpfe besiegte, London verlassen und war über Berlin, wo er mehrere Wettkämpfe mit lokalen Größen, unter anderem mit Karl Mayet, austrug, in seinem Heimatstadt Breslau zurückgekehrt. Dort wurde dann im Februar 1848 ein viel beachteter Wettkampf mit Anderssen ausgerichtet, der beim Stand von 5 zu 5 als unentschieden abgebrochen wurde.
Aufgrund der politischen Turbulenzen 1848 kehrte Harrwitz erneut Schlesien den Rücken, um sich endgültig in London als Berufsspieler zu etablieren. Als Vorgabespieler war er unerreicht, das damit verbundene Risiko schien ihn besonders zu reizen, zudem gefährdete eine Niederlage in einer Vorgabepartie nicht die eigene Reputation. Auf eine Beteiligung am Londoner Turnier 1851 mag Harrwitz aus diesem Grund verzichtet haben, sein erklärtes Ziel war ein erneuter Wettkampf mit Staunton. Der ging tunlichst - sehr zu dessen Missvergnügen - jeder Auseinandersetzung am Brett aus dem Weg. Der lästige Herausforderer war kleinwüchsig, was den stattlichen Staunton zu manchem Bonmot aus dessen Kosten animierte. Markant war zudem Harrwitz' auffallend großer Kopf, der auf schmalen runden Schultern saß. Die körperlich so unterschiedlichen Streithähne trugen 1853/54 einen heftigen „Tintenkrieg“ in ihren jeweiligen Schach-Postillen, also dem Chess Player´s Chronicle, bzw. dem kurzlebigen British Chess Review aus. Diese Debatte kam unvermittelt zu erliegen, als Harrwitz aus gesundheitlichen Gründen seine Zeitschrift einstellte und London verließ, um sich auf der Insel Wight zu erholen.
Vom 26. September bis 21. Dezember 1853 kann dann jener legendäre Wettkampf auf 11 Gewinnpartien mit Stauntons Protegé, dem Ungarn Löwenthal, im Londoner Chess Divan zustande. Harrwitz gab beim Stande von 2-7 zwei Punkte kampflos ab, weil er sich zur Regeneration von einer Erkrankung nach Brighton begab. Der Rückstand schien hoffnungslos, doch leistete Harrwitz nach einer weiteren Niederlage solch erbitterten Widerstand, dass er den zunehmend irritierten Löwenthal schließlich mit 11 zu 10 bei 12 Unentschieden niederrang.
Die letzte Partie aus diesem Wettkampf demonstriert recht gut die von Harrwitz an den Tag gelegte Spielstärke.
Nach Kieseritzkys Tod wurde Harrwitz dessen Nachfolger als „residierender“ Schachmeister im Pariser Café de la Regénce, wo er im Herbst 1858 seinen Wettkampf gegen Paul Morphy mit 2-5 klar verlor. Immerhin konnte Harrwitz die ersten beiden Partien gewinnen, und zählt man die davor ausgetragene freie Partie dazu, ist er der einzige Kontrahent, der Morphy in drei Partien hintereinander bezwingen konnte. Die Umstände um diesen Wettkampf werfen kein gutes Licht auf Harrwitz, er konnte sich in der Folge nicht mehr lange in seiner Position halten und verließ nach der Match-Niederlage gegen Kolisch schließlich Paris, lebte für kurze Zeit wieder in London, dann in Wien und München. Im Laufe des Jahres 1862 kehrte Harrwitz nach Breslau zurück, wo er im väterlichen Geschäft arbeitete und kaum noch im Schach aktiv war.
Aus dieser Zeit stand möglicherweise die nachfolgende seltene Aufnahme, die sich in der Sammlung Lothar Schmid, Bamberg, fand und Harrwitz mit Anderssen und Dufresne zeigt.
Wichtige Ergänzung am 18.09.2016: Das Bild wird seit über einem Jahrhundert in Italien verzweifelt gesucht. Die Aufnahme stammt vom Schachturnier in London 1862. Nicht Dufresne ist in der Mitte zu sehen, sondern Serafino Dubois, der bedeutendste italienische Schachmeister des 19. Jahrhunderts!
Harrwitz lebte dann Mitte der siebziger Jahre in Süddeutschland, er war Ehrenmitglied des Schachclubs in Ansbach, Nürnberg und München, dann übersiedelte er, ausgestattet mit dem väterlichen Erbe, ins klimatisch angenehme Südtirol. Die Deutsche Schachzeitung erwähnte im August 1877 seinen Besuch in London, wo er seiner Spezial-Disziplin, den Vorgaben-Partien, frönte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Harrwitz zurückgezogen in Bozen, wo er laut Totenbuch mit knapp 63 Jahren „an Lungenlähmung“ verstarb.
Wie bereits eingangs erwähnt, entdeckte Luca D'Ambrosio, Mitglied der Ken Whyld Association und des Schachklubs ARCI Bozen das vergessene Grab, den letzten Wohnort und weitere wichtige Spuren, die den Lebenslauf des großen Schachmeisters Daniel Harrwitz klärten. Dieses neu erwachte Interesse bildete für den 1943 in Gorica (Friaul) geborenen Erfolgsautor Paolo Maurensig (Die Lüneburg-Variante, 1994) den Anlass, für seine Ende Oktober 2012 erschienene Erzählung L'ultima traversa Bozen und Umgebung als Ort des Geschehens und den Schachspieler Harrwitz als einen Hauptakteur zu wählen.
Es bleibt zu hoffen, dass D'Ambrosio mit einer von ihm geplanten Biographie und Partiesammlung von Daniel Harrwitz ein ähnlich „großer Wurf“ gelingt wie mit seinem 2014 erschienenen Prachtwerk Die Internationalen Schachturniere zu Meran 1924 und 1926 (Rezensionen in SCHACH 10/2014 und KARL 3/2014)
Michael Negele
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 20717