10. Mai 2016
Bernhard (eigentlich Benjamin) Horwitz
(* 10. Mai 1807 in Neustrelitz; † 29. August 1885 in London)
von Michael Negele
Nach der Vertreibung der Juden aus Mecklenburg infolge des Sternberger Hostienfrevel-Prozesses 1492 hatten sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts wieder Juden in den Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, dem späteren Mecklenburg, angesiedelt. Im Jahre 1814 lebten in Mecklenburg-Strelitz gemäß einer Volkszählung 473 erwachsene Einwohner jüdischen Glaubens. So gab es in Neustrelitz sieben jüdische Familien, darunter die des Simon Levin Horwitz, bis 1813 Simon Levin genannt.[1]
Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass dieser Simon Levin – wohl ein Kaufmann – der Vater des am 10. Mai 1807 in Neustrelitz geborenen Benjamin Horwitz war. Otto Koch gibt in seiner ausführlichen Würdigung Horwitz' im Deutschen Wochenschach 1910 den 10. Mai 1808 als dessen Geburtstag an, was sicherlich ebenso ein Irrtum war wie der 10. Mai 1806, den James G. Cunnigham in seinem Nachruf im Britisch Chess Magazine 1885, S. 397ff nannte.[2] Die Bedeutung von Horwitz für das britische Schachleben ab 1845 wird dadurch unterstrichen, dass zuvor schon die Reverends Charles E. Ranken (S. 341ff) und William Wayte (S. 375f) mehrseitige Würdigungen des Verstorbenen verfasst hatten.
In den Judenbürgerbüchern der Stadt Berlin 1809-1851 (bearbeitet und herausgegeben von Jacob Jacobson, Verlag Walter de Gruyter, 1962) findet sich auf S. 387 folgender Eintrag – Nr. 2026 –, datiert auf den 27. Dezember 1842.
Somit liegt nahe, dass dieser in Berlin lebende Produktenhändler Louis Horwitz ein älterer Bruder unseres Benjamin Horwitz war. Wann dieser seinen Vornamen in das christlich anmutende Bernhard änderte, ist nicht überliefert. Laut Koch zeitigte der junge Horwitz „sein Talent fürs Zeichnen, neben dem fürs Schachspiel“. The Chess Monthly wusste im Nachruf vom September 1885 (mit korrektem Geburtsjahr 1807) zu berichten, dass der Knabe das Schachspiel von einem seiner Lehrer erlernte. Ab 1831 (laut dem Bergerschen Schach-Jahrbuch für 1899/1900) bis 1839 studierte Horwitz an der Kunstakademie in Berlin Malerei. Angeblich nahm ihn Julius Mendheim (1788-1836) unter seine Obhut, später wurde er Mitglied der „Berliner Schachschule“ um Ludwig Bledow, als „Plejaden“, also „Siebengestirn“ bezeichnet. Dazu schrieb Tassilo von Heydebrandt und der Lasa in seinen Berliner Schacherinnerungen (Leipzig 1859, S. 2): „Gegen das Jahr 1836 hatten sich um den vorher genannten Meister [also Bledow – MN], der nach dem Tode des genialen Mendheim den ersten Rang in den Berliner Schachzirkeln einnahm, fünf jüngere Spieler von wenig verschiedener Stärke, aber mit untereinander im Spiel sehr abweichenden Eigenschaften vereint. Zuerst, und zwar noch in den letzten Zeiten Mendheims, kamen Hanstein, Mayet und Horwitz in nähere Berührung mit Bledow. Dann schlossen sich der Autor dieser Zeilen und sein Freund Bilguer dem Zirkel an, zu welchem als Siebenter, jedoch schon etwas ferner stehend, der Maler Schorn zu zählen war. (…) Die merkwürdige Vereinigung, die ihres Gleichen selten gehabt haben mag, war aber nur von verhältnismäßig kurzer Dauer. Abgesehen von vorübergehenden Entfernungen einzelner Mitglieder, schieden bereits 1839 und 1840 Horwitz, Schorn und Bilguer für immer aus.“
Einige Seiten weiter (auf S. 13) charakterisiert von der Lasa den fast 30-jährigen Horwitz näher: „Der nächste Spieler, welcher sich der Zahl der Meister beigesellte, war der jetzt in England lebende Künstler Horwitz. Sein Spiel war genial und unterhaltend, aber sehr schnell und oft gewagt. Daher pflegte er gegen Hanstein und Bledow etwas mehr als gegen Mayet zu verlieren. Bei Wettspielen würde er vermutlich, selbst gegen einen schwächeren, aber ruhigen Gegner leicht in Nachteile kommen. Von der beträchtlichen Zahl seiner im Blumengarten gespielten Partien sind leider nur ein paar notiert worden. Man kann seine ungewöhnliche Stärke indes zur Genüge aus seinen späteren in London in die Öffentlichkeit gekommenen Spielen erkennen. Er zeichnet sich ganz besonders in den regelmäßigen Spielendungen aus.“
Bereits 1839 verzog Horwitz nach Hamburg, die Gründe für diesen Wohnsitz-Wechsel mögen im familiären Umfeld gelegen haben. Dort konnte er 1842 einen Wettkampf mit William (Wilhelm) M. Popert (1797-1846 – diese Lebensdaten sind jedoch nicht belegt.) austragen, der unentschieden endete, d.h. jede Partei verzeichnete sechs Gewinnpartien. Dieser Wettkampf war Pierre-Charles de Saint-Amant in Le Palamède 1842, S. 234 eine Erwähnung wert, denn um 1840 galt Popert, der aus Hamburg stammte und in London als Kaufmann tätig war, als der stärkste Spieler des London Chess Club. Wiederum sei von der Lasa zitiert, jetzt aus seinem Beitrag „Das Schachspiel in Hamburg und Altona“ in der Schachzeitung von 1847 (S. 116ff): „Bei meiner ersten Anwesenheit, 1842, besaß der Club [Hamburger Schachklub von 1830 – MN] noch zwei Spieler von allgemeinem Rufe, die Herren Popert und Horwitz. Der erste (…) hatte sich lange in England mit den besten Spielern rühmlichst gemessen, und brachte erst wieder die letzten Jahre seines Lebens, jedoch stets leidend, in Hamburg zu, wo er allein Herrn Horwitz nachzustehen schien. Dieser ist in den Blättern der gegenwärtigen Zeitschrift schon öfters erwähnt worden, so dass ich nicht zu wiederholen brauche, wie er sich jetzt zu den ersten Spielern Londons gesellt hat. Er gehört übrigens auch dem Hamburger Verein als Ehrenmitglied an.“
Vielleicht war es der Kontakt zu Popert, der den Künstler, der auf das Malen von Miniaturen spezialisiert war, inspirierte, sich 1845 in die englische Metropole zu begeben. Er wurde von Staunton in dessen The Chess Player´s Chronicle 1845 auf S. 289 mit der Problemstellung No. 221 als M. Horwitz, of Hamburgh vorgestellt. Horwitz beteiligte sich ab sofort intensiv am Londoner Schachleben, so spielte er Wettkämpfe mit Howard Staunton (London 1846, 7:14 bei 3 Remisen), Lionel Kieseritzky (London 1846, 4:7 bei 1 Remis), Daniel Harrwitz (London 1846, 4:6 bei 1 Remis und Brighton 1849, 6:7 bei 2 Remisen), Henry E. Bird (London 1851, 7:3 bei 4 Remisen), Johann Jacob Löwenthal (London 1852, 1:4), Elijah Williams (London 1852, 3:5 bei 9 Remis), später dann nur noch mit Ignaz von Kolisch (Manchester 1860, 1:3). 1851 war Horwitz unter den Teilnehmern des Londoner Turniers, wo er den siebten Platz belegte. Er besiegte in der ersten Runde den jungen Henry Bird mit 2,5:1,5, unterlag dann Staunton ehrenhaft mit 2,5:4,5, während er gegen den Ungarn Jószef Szén glatt mit 0:4 verlor.
Die nachfolgende Gewinnpartie gegen Bird stammt aus deren nachfolgenden Wettkampf 1851, es ist die 13. Begegnung (von 14).
Horwitz war also durchaus ein erfahrener Praktiker, aber offenbar fehlte es ihm an Nervenstärke und seine damit einhergehende, mitunter überstürzte Partieführung konnte im Wettstreit mit der technisch versierten Londoner Konkurrenz kaum erfolgreich bestehen. Bis 1862 beteiligte er sich regelmäßig, aber mit abnehmendem Erfolg an den auf der britischen Insel stattfindenden Turnieren. Mit Eifer verlagerte er seine Aktivitäten auf das Feld der Endspielanalyse, worin er mit Sicherheit durch die fruchtbare Zusammenarbeit mit seinem Landsmann Josef Kling (* 19. März 1811 in Mainz; † 1. Dezember 1876 in London) bestärkt wurde.
Kling war Kirchenmusiker (Organist) und Musiklehrer, 1834 ging er nach Paris und verdiente seinen Lebensunterhalt als Schachspieler im Café de la Régence. In Le Palamède veröffentlichte Kling 1836 seine berühmt gewordene Analyse des Endspiels Turm und Läufer gegen Turm. 1837 ließ er sich in London nieder, wo er 1849 The Chess Euclid, eine Sammlung von 200 Schachproblemen, herausgab. 1851 erschien Chess Studies, Bernhard Horwitz' Gemeinschaftsarbeit mit Josef Kling, eine Sammlung von 208 Endspielen. Beide Autoren wurden damit die Begründer der modernen Endspiel-Studie, ihr Werk, insbesondere in den späteren Auflagen, gilt als Grundlage der Endspieltheorie. Im gleichen Jahr hatte das Team Horwitz/Kling ab dem 19. Juli 1851 versucht, mit The (New) Chess-Player eine Wochenzeitschrift auf den Londoner Markt zu bringen. Im September 1852 wurde auf monatliches Erscheinen umgestellt, zum Jahresende 1853 das ganze Unterfangen, obwohl angeblich durchaus profitabel, mit einem von Horwitz verantworteten Sammelband aufgegeben. Möglicherweise gab es ein Zerwürfnis mit Kling, der 1852 ein Schachcafé in der Westminster Street eröffnet und Horwitz als „residenting master“ beschäftigt hatte.
Im März-Heft 1855 seiner nur ein Jahr existierenden Wiener Schachzeitung verkündete Ernst Falkbeer, dass „Herr Horwitz sich jetzt dem betäubenden Lärm der Weltstadt entzogen, und weilt gegenwärtig in Southampton, woselbst er sich mit Malen beschäftigt.“ In England hatte sich Horwitz auf das Malen von Kinderporträts spezialisiert und laut William Wayte (BCM 1885, S. 377) konnte er sich eine durchaus einträgliche Kundschaft in Liverpool und Manchester erarbeiten. Dort lebte Horwitz laut Johann Berger von 1857-1869, war Angestellter und Ehrenmitglied des hiesigen Schachclubs, später ständiger Trainingspartner des jungen Joseph Henry Blackburne.
Dieses berühmte Foto wurde im Juni 1873 bei einer vom Mäzen Henry Francis Gastineau veranstalteten Gartengesellschaft in Peckham im Süden von London aufgenommen. Sitzend von links: Wilhelm Steinitz, Gastineau und Cecil de Vere; stehend von links: J. Lovelock, Bernhard Horwitz, William N. Potter, Johann J. Löwenthal, Henry F. Down, Joseph H. Blackburne und William R. Ballard.
Offenbar kam Horwitz einige Jahre nach seiner Rückkehr nach London in finanzielle Schwierigkeiten, darauf lässt zumindest sein von Hans Renette (Bierbeek, Belgien) unlängst entdeckter Antrag vom 15. Oktober 1872 auf Unterstützung durch den Royal Literary Fund schließen.[3] Dem Dokument ist zu entnehmen, dass Horwitz nie die britische Staatsbürgerschaft erlangte, die Gründe für seinen Engpass hat er nicht näher erläutert. Seinem Antrag wurde nicht entsprochen.
Horwitz' Eheschließung mit der verwitweten und offenbar recht wohlhabenden Priscilla Deykes aus Camden Stead lag wohl zwei Jahre danach, der späte Bräutigam war 67 Jahre alt. Zu dieser Zeit versuchte sich Horwitz als Landschaftsmaler, ob mit Erfolg, sei dahingestellt. Jedenfalls hatte er immer maßvoll gelebt, was ihm ein langes Leben bescherte.
Die überraschende Reise Horwitz' in die Vereinigten Staaten im Herbst 1876 stand eventuell im Zusammenhang mit seiner Verheiratung, die Schachspalte in The Field berichtete am 23. Dezember 1876, „von einem Korrespondenten in Philadelphia erfahren zu haben, dass der Veteran Horwitz (…) sich in jener Stadt aufhält und mit Herrn Martinez Partien gespielt hat.“
Ab 1855 hatte Horwitz unter eigenem Namen mehr als 200 Studien komponiert, die er in den Westminster Papers, The City of London Chess Magazine und The Chess Monthly publizierte. 1884, acht Jahre nach Klings Tod, brachte er dann deren 1851 erschienenes Buch als Chess Studies and End-Games in erweitertem Umfang heraus, betrüblicherweise ohne seinen kongenialen Partner nur mit einer Silbe zu erwähnen. Dies erregte beträchtlichen Widerspruch unter den Rezensenten, doch dem etwas verwirrten Greis wurde diese „Missetat“ rasch vergeben. Sein Freund Rev. W. Wayte rückte in der zweiten Ausgabe von 1889 auf Grundlage der sorgfältigen Korrekturen von Rev. C. Ranken die Autorenschaft Klings wieder zu Recht und fundierte damit posthum den Ruhm von Bernhard Horwitz als Endspiel-Spezialist.[4]
Wilhelm Steinitz mit Mitgliedern des Philadelphia Chess Club (1882):
Von links nach rechts: J. Elson, C.J. Newman, D.M. Martinez, R. Frank, G.C. Reichhelm, J. Roberts, L.D. Babour, W. Steinitz, D.S. Thonpson, Dominguez-Cowan.
Abschließend soll Wilhelm Steinitz zu Wort kommen, der in seinem International Chess Magazine im Mai 1885 als Nr. 28 eine am 29. November 1876 in der Athenaenum Library zu Philadelphia von Horwitz gegen Martinez verlorene Partie brachte. Im Oktober 1885 (S. 301) fand der Redakteur sehr persönliche Worte für den allseits geschätzten Verstorbenen, mit dem Steinitz wohl bis noch kurz vor dessen Ableben im Briefwechsel stand: „Der alte Horwitz ist von uns gegangen. (…) Aus seiner Aussage, dass er sich wenige Tage vor seinem so plötzlichen Dahinscheiden recht gut fühlte, und aus der Frische und Einfallsreichtum seiner letzten Beiträge zu den Endspielstudien in dieser Ausgabe, ziehe ich betrübt den Trost, dass er mit höchster Wahrscheinlichkeit genauso zufrieden starb wie er gelebt hat. (…) Seine Genialität in der Behandlung von Endspielen wurde von keinem Schachmeister erreicht, denn er entwickelte und veranschaulichte mit Leichtigkeit solch´ profunde Ideen, die den meisten Experten nur nach mühevollen Berechnungen zugänglich wurden. Ihn zu verlieren ist für die Schachwelt kaum zu verkraften und ich persönlich fühle mich eines meiner engsten Freunde beraubt, der standhaft all meine Ziele und Meinungen unterstützte. In seinem letzten Brief drückte er die innigste Erwiderung dieser freundschaftlichen Verbundenheit aus, welche sich zwischen uns entwickelte, seit dem ich das Vergnügen hatte, ihn vor ungefähr 17 Jahren zum ersten Mal zu treffen.
[1] Siehe Norbert Francke und Bärbel Krieger Die Familiennamen der Juden in Mecklenburg, Schwerin 2001.
Herausgegeben vom Verein für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e. V..
Hier sei auf die im Aufbau befindliche Website www.juden-in-mecklenburg.de verwiesen. Ich danke Frau Sylvia Ulmer für die Bestätigung des Geburtstages, leider glückte die direkte Beweisführung zur Verwandtschaft Bernhard Horwitz mangels zeitgenössischer Dokumente nicht.
[2] In zwei ausführlichen Biographien Horwitz' von Vlastimil Fiala in Quarterly for Chess History, Nr. 5 (März 2002), S. 129ff und von Mario Ziegler in Das Schachturnier London 1851 (St. Ingbert 2013), S. 68ff wird der genannte Geburtstag favorisiert.
[3] Siehe Edward Winter Chess Notes Nr. 7277 vom 19. September 2011.
[4] Der in der Edition Olms 1986 erschienene Reprint beruht auf dieser Ausgabe.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 20918