15. Dezember 2015
(*15. Dezember 1838 in Gleiwitz, † 16. Februar 1881 in der Heilanstalt Allenberg bei Wehlau in Ostpreußen)
Ein legitimer Thronfolger Adolf Anderssens, der das Schicksal von Paul Morphy teilte.
von Michael Negele
In wenigen Tagen wird KARL 4/2015 mit dem Schwerpunkt „Genie und Wahnsinn“ erscheinen, meine folgenden Ausführungen über das oberschlesische Schachgenie G.R. Neumann fielen der notwendigen Kürzung des Beitrages über Johannes Minckwitz zum Opfer.
Gustav Richard Ludwig Neumann (Es gibt Hinweise, dass sein ursprünglicher Rufname der Drittname Ludwig war.) kam als Sohn des seit 1825 in Gleiwitz ansässigen Druckers Gustav E. Neumann [(1801-1872), aus Landeshut (Kamienna Góra) stammend.] und dessen Frau Josephine [(1796-1867), eine geborene Pompejus, offenbar auch eine Drucker-Dynastie.] zur Welt.
Am 18. April 1826 hatte Gustav Neumann seine Stadtbuchdruckerei gegründet, in der er ab 1828 (bis 1945) den Oberschlesischen Wanderer (OSW), ein regionales Nachrichten- und Anzeigenblatt, herausgab. Ende der 60ziger Jahre übergab der Seniorchef das Geschäft an seinen zweiten Sohn, Carl Friedrich (1841-1928), der in Berlin, Wien und Leipzig das Buchdrucker-Handwerk erlernt hatte. 1919 ging dann der angesehene Familienbetrieb an die dritte Generation, also dessen Söhne Arthur und Eginhard, über. (Zwei Webartikel geben ausführlich Auskunft über die Familie Neumann in Gleiwitz, aber leider nur in Polnisch.)
Gustav jun. war ein hochbegabter Junge, der mit zehn Jahren einen folgenschweren Unfall erlitt: Er geriet in der Druckerei mit dem Kopf zwischen zwei herabrutschende Papierballen und wurde dermaßen eingeklemmt ohne Besinnung, aber scheinbar unversehrt, aufgefunden. Bereits mit gut zehn Jahren war seine Schachbegabung - das Spiel hatte er vom Vater erlernt - mehr oder weniger zufällig einem seiner Lehrer offenbart worden. Das Interesse am Schach wurde in der Folge intensiv, der in Gleiwitz zu Besuch weilende Schachmeister Daniel Harrwitz bestätigte dem Sekundaner ein für sein Alter enormes Talent.
Nach Absolvierung des Gymnasiums ermöglichte ihm die Familie ab Ostern 1860 ein Studium der Medizin (nicht der Physik und Chemie, wie Internetquellen behaupten) in Berlin, zunächst an der Pépinière, einer „Pflanzstätte“ für Militärärzte, seit 1818 Medicinisch-chirurgisches Friedrich-Wilhelm-Institut.
Der folgende Eintrag in der Stammliste der Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärärztliche
Bildungswesen (erschienen im Springer-Verlag Berlin 1910) bestätigt die in der Schachliteratur vertretene Ansicht, dass Neumann seine Ausbildung an dieser Militärakademie nicht abgeschlossen hat, aber auch in seinem anschließenden Universitätsstudium kein medizinisches Staatsexamen ablegte.
Neumanns Teilnahme als Feldunterarzt am Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 lässt sich in der Neuen Berliner Schachzeitung (in folgenden NBSZ) von 1866 (S. 224) nachvollziehen:
„Unsere geehrten Correspondenten werden entschuldigen, wenn wir sie dieses Mal ohne Antwort lassen, da der Unterzeichnete, dem sämmtliche Redactionsgeschäfte obliegen, gegenwärtig seine ganze Zeit der Heilung verwunderter preussischer und österreichischer Krieger widmet. Schloss Wallensteins in Jicin im August 1866 G. R. Neumann“
Schon im April 1860 hatte der im Schach extrem ehrgeizige, nahezu besessene Neumann auf seiner Anreise nach Berlin in Breslau Station gemacht, um sich mit Adolf Anderssen zu messen. Später kam es zu regelmässigen Treffen, entweder in Breslau in den Semesterpausen, oder auch in Berlin während der Schulferien. Darüber (siehe NBSZ 1867, S.1f) und über seine frühe Berliner Zeit (siehe NBSZ 1866 S.2f und S.65ff) berichtete Neumann später als herausgebender Redakteur. Diese Funktion nahm er bis 1867 gemeinsam mit Adolf Anderssen wahr, der allerdings wohl nur als „prominentes Aushängeschild“ diente. Neumanns Nachfolge übernahm bis zur Einstellung der NBSZ Ende 1871 Johannes Hermann Zukertort.
1861 wurde Neumann Mitglied des Akademischen Schachklubs, im Folgejahr schon dessen Ehrenmitglied. Doch zeitgleich schien sich gemäß den Ausführungen seines Bruders (in einem Brief vom Juli 1878), wie Minckwitz 1881 in seinem Nachruf in der Deutschen Schachzeitung (S. 242f) darlegte, erstmalig eine Gemütserkrankung eingestellt zu haben. Neumann musste seine Ausbildung zum Militärarzt unterbrechen und wechselte nach seiner Genesung im Wintersemester 1862/63 an die Berliner Universität, was ihm mehr Freiraum für seine Schachlaufbahn bot. Schon bald danach dominierte er die lokale Szene nach Belieben, er ging ab 3. Oktober 1864 sogar die recht anmaßende Wette an, innerhalb eines Jahres maximal 10% aller gespielten Partien zu verlieren (NBSZ 1864, S. 288). Darüber führte er in der Folge peinlich genau Buch, man siehe z.B. die Tabelle in NBSZ 1864, S.308. Außer Berthold Suhle konnte kein anderer Berliner Spieler Neumann Paroli bieten, einen Wettkampf mit Louis Paulsen verlor der Schachfanatiker im Mai 1864 nur knapp 3 zu 5 bei 3 Unentschieden, nicht ohne sich über Paulsens extremen Bedenkzeit-Verbrauch zu beklagen. Neumann hatte die ersten vier Partien verloren, konnte sich dann aber auf seinen starken Gegner einstellen.
Im folgenden Jahr schaffte Neumann beim Turnier der Berliner Schachgesellschaft, deren Mitglied er seit 1862 war, einen einsamen Rekord, in dem er alle 34 Partien für sich entschied (NBSZ 1865, S. 155). Im August 1865 beim Westdeutschen Schachkongress in (Wuppertal-) Elberfeld gewann er im allerdings schwach besetzten „Fremden“-Turnier alle drei Partien. Von diesem Kongress soll es eine Fotoaufnahme der vier Gäste Joost Pinédo (Amsterdam), Gustav Neumann, sowie Wilfried und Louis Paulsen geben – es wäre die zweite von G.R. Neumann existierende Aufnahme. (Für Hinweise, wo diese aufzufinden ist, wäre ich sehr dankbar!)
Sein erstes internationales Turnier spielte Neumann erst 1867 in Paris, wo er hinter Kolisch, Winawer und Steinitz den 4. Platz belegte. Damit war Neumann keineswegs zufrieden, er forderte alle Preisträger zu Wettkämpfen auf, worauf nur Simon Winawer einging. Ihn, den Kubaner Celso Golmayo y Zúpido und den Lokalmatador Samuel Rosenthal besiegte Neumann klar und zählte damit zu den stärksten Spielern in Europa. Das konnte er im schottischen Dundee bestätigen, wo er vor Steinitz, MacDonnell, de Vère und Blackburne siegte. 1869 entschloss sich Neumann nach Paris überzusiedeln, wo er zwei weitere Wettkämpfe gegen Rosenthal gewann. Unmittelbar nach dem zweiten Match erlitt Neumann im Dezember 1869 einen Nervenzusammenbruch, der sich in Tobsuchtsanfällen äußerte, und er wurde in das Pariser Centre Hospitalier Sainte-Anne eingewiesen. Erst im März 1870 konnte er nach Gleiwitz zurückkehren, wo er dann für drei Jahre bei seinem Bruder lebte. Immerhin fühlte Neumann sich im Juli 1870 erneut in der Lage, beim internationalen Turnier in Baden-Baden anzutreten. Er belegte hinter Anderssen und Steinitz zusammen mit Blackburne den dritten Platz, seinen Lehrmeister konnte er zweimal bezwingen. Wäre Neumann nicht mit 0,5:1,5 gegen den schlecht platzierten Rosenthal unterlegen, den er ansonsten klar beherrschte, wäre er trotz einer 0:2-Niederlage gegen Steinitz Turniersieger geworden.
Sein letztes Turnier spielte Neumann beim dritten Kongress des Norddeutschen Schachbundes Ende Juli 1872 in Altona, wo er ohne Niederlage hinter Anderssen den zweiten Preis vor Göring, Schallopp und Pitschel errang.
Ende 1872 brach seine Geisteskrankheit erneut aus, er wurde, wie sein Bruder im erwähnten Brief berichtete, für ein halbes Jahr in der Heilanstalt Leubus untergebracht. Zwar schien Neumann wieder zu genesen, doch die Schübe seiner Tobsuchtsanfälle kamen immer häufiger.
Nach einem weiteren einjährigen Aufenthalt in der Heilanstalt Schwetz nahm Neumann, der das Schachspiel völlig aufgegeben hatte, ein Philologie-Studium an der Universität Königsberg auf. Doch schließlich musste der Gemütskranke dauerhaft in der Heilanstalt Allenberg bei Wehlau untergebracht werden, wo der stets ernste, wortkarge Mann am Ende in völliger Apathie dahindämmerte. Am 16. Februar 1881 wurde Gustav Neumann von seinem Leiden erlöst. Seine überlieferten Partien mit den stärksten Spielern seiner Zeit, aber auch seine Lehrbücher und Partieanalysen zeugen von seiner meisterlichen Spielstärke.
Die von Marian Jabłoński 2006 angelegte Website erwies sich als äußerst informativ.
Insbesondere sei auf die Beiträge „Historia firmy wydawniczej Neumanns Stadtbuchdruckerei i willi Arthura Neumanna w Gliwicach” von Przemysław Nadolski und „Gliwiccy drukarze, wydawcy i księgarze” von Adam Pol verwiesen.
Weitere Bilder und Informationen zur Familiengeschichte der Drucker-Dynastie Neumann in Gleiwitz finden sich hier.
Diese Würdigung durch Paul Seuffert (1860-1896), dessen Lebensschicksal ebenfalls tragisch zu nennen ist, übertrifft die Darstellungen von Ludwig Bachmann (1921) und August Babel (1928) inhaltlich beträchtlich. Die Quelle ist durch das Titelblatt dargestellt, meinem Freund Andrew M. Ansel (Laurel Hollow, NY) danke ich herzlich für die Bereitstellung.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 20573