20. Oktober 2015
Am Abend des 17. Oktober wurde in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden die zweite Schachweltmeisterschaft für Menschen mit Behinderungen eröffnet. Gäste der Veranstaltung im Turnierhotel Wyndham Garden waren unter anderem DSB-Präsident Herbert Bastian, FIDE-Exekutivdirektor Nigel Freeman, der Vorsitzende des FIDE-Ausschusses für Schach für Behinderte Thomas Luther und Dr. Peter Lames, Bürgermeister Dresden's für Personal und Recht.
63 Teilnehmer aus 13 Ländern kämpfen bis zum nächsten Sonnabend um die Weltmeistertitel in der Einzel- und Mannschaftswertung. Titelverteidiger ist der russische FM Stanislaw Babarykin, der dieses Jahr als Nummer drei hinter Alexej Smirnow (Russland) und IM Igor Jarmonow (Ukraine) in das Rennen geht. Deutsche Titelhoffnungen gibt es keine. Dazu ist die Fraktion der Spieler aus den osteuropäischen Ländern und Israel zu stark. Der beste deutsche behinderte Spieler, GM Thomas Luther, beschränkt sich wie schon 2013 auf das rein Organisatorische. Und auch unser blinder Superstar FM Oliver Müller aus Bremen ist nicht dabei.
Bei den Mannschaften ist die russische Blindenauswahl Titelverteidiger. Sie gewann 2013 vor der russischen Auswahl der Spieler mit physischen Behinderungen und der polnischen Blindenmannschaft. Ähnlich könnte das Rennen auch in diesem Jahr ausgehen.
Trotz aller sichtbaren physischen Behinderungen vieler Teilnehmer, sorgt gerade eine nichtsichtbare Behinderung eines jungen Teilnehmers für Gesprächsstoff. Es geht um den 15-jährigen Jarno Scheffner, der trotz geistiger Behinderung schon ganz gut Schach spielen kann. Jarno ist seit drei Jahren Mitglied des SK Nordhorn-Blanke. Er spielt dort ganz normal mit, auch das normale Training. Mittlerweile ist er einer der besten Jugendlichen im Verein. In der Jugendlandesliga wissen manche seiner Mitstreiter gar nicht, daß er geistig behindert ist.
Bei der Weltmeisterschaft in Dresden wird Jarno von seiner Mutter und Patrick Wiebe begleitet. Wiebe, selbst ein starker Schachspieler mit DWZ 2154, war von 2003 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Schachjugend. Er ist Lehrer an der Vechtetal Schule in Nordhorn, einer Förderschule für geistige Entwicklung, und verbindet den Besuch in der Olympiadestadt von 2008 gleich mit ein wenig Urlaub und natürlich dem Training mit Jarno. So gab es am Morgen vor der 1. Runde noch eine kurze Vorbereitung auf den polnischen Gegner mit Elo über 2100. Und es kam genau die vorbereitete Eröffnung auf das Brett. Jarno konnte sich alles merken. Wiebe: "Wir können uns das auch nicht richtig erklären. In den anderen Bereichen wie Deutsch und Mathematik gibt es große Defizite. Er hat probeweise an einer Förderschule Lernen am Unterricht teilgenommen. Aber das schafft er nicht, das ist zuviel."
Das Talent für Schach entdeckte vor vier Jahren ein Therapeut, der dieses Brettspiel mit seinem Schützling ausprobierte. "Richtig erklären können wir uns das auch nicht" meint Wiebe zur besonderen Begabung von Jarno. Er spielt fast täglich ein bis zwei Partien in der Schule mit ihm. Mittlerweile muß er sich immer öfter anstrengen, um die Oberhand zu behalten. "Ich kann mir vorstellen, daß er noch stärker wird." Seine beiden letzten Turniere (u.a. Pardubice) beendete er bereits mit einem Niveau von rund 1800.
"Man sieht Jarno die Behinderung nicht an, aber wenn man sich mit ihm unterhält, bemerkt man das er Probleme hat, sich auszudrücken." so Patrick Wiebe in unserem kurzen Gespräch am Rande der Weltmeisterschaft. "Er wird später immer eine Form von Assistenz benötigen, zum Beispiel im betreuten Wohnen und durch den Besuch von Mitarbeitern der Lebenshilfe." Alle normalen Tätigkeiten im Haushalt wird er beherrschen können, aber alles was darüber hinaus nicht zum täglichen Leben gehört, dafür benötigt er Unterstützung. Zum Beispiel auch alles was mit Geld zu tun hat. Wiebe "Den Zahlenraum bis 1000 beherrscht er aber mittlerweile."
Alle Absolventen der Schule haben einen Anspruch auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz in einer Werkstatt für Menschen mit geistigen Behinderungen. Dann ist auch die Zeit zu Ende, in der Wiebe beruflich mit dem 15-Jährigen zu tun hat. Schachlich und privat wird die Zusammenarbeit aber sicher nicht beendet.
Wiebe zum Abschluß des kleinen Interviews: "Es ist das erste Mal, daß ich an meiner Schule jemanden kennengelernt habe, der so gut Schach spielen kann!"
Frank Hoppe
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 20367