7. November 2013
Die Europameisterschaften in Warschau stehen vor der Tür – heute Abend ist das Captain´s Meeting, und schon morgen werden die ersten Bauern bewegt. Darum ist es höchste Zeit, noch schnell einen Blick auf die Aufstellung der beiden deutschen Teams (Damen und Herren) zu werfen.
Ascheregen auf mein Haupt - leider bin ich eigentlich gar kein Experte für das deutsche Damenteam. Zwar habe ich schon mit Melanie Ohme einige Züge am Schachbrett gewechselt, und ich kenne eine Frau, die den Mann von Judit Polgar kennt (wenn auch nur flüchtig). Zur Nationalmannschaft kann ich jedoch immerhin sagen, dass sie sehr prominent an fünfter Stelle der Turnier-Setzliste stehen. Mit Elisabeth Pähtz, Marta Michna, Tatjana Melamed, Zoya Schleining und Ketino Kachiani-Gersinska gibt es eine ausgewogen starke Aufstellung - und mit IM Pähtz ein wirklich sehr gefährliches, kämpferisches erstes Brett. Auch Marta Michna ist ja, wie soll man sagen, ein echter Haudegen, da mag in den neun Runden viel passieren!
Weil die internationale Konkurrenz auch diesmal nicht schlafen wird, haben unsere Damen mit Philipp Schlosser und Raj Tischbierek in Baden-Baden noch intensiv trainiert. Schauen wir also mal – ein Platz unter den ersten Fünf wäre prima!
Mehr zu den Aussichten des deutschen Teams kann man in einer ausführlichen Analyse von Raymund Stolze nachlesen.
Es gibt ja immer gerne Gerangel um die Nominierung von Nationalspielern – das ist im Fußball so, und im Schach ist es nicht viel anders.
Wir wollen das hier nicht weiter ausführen, und nach den Druzynowe Mistrzostwa Europy w Szachach in Warschau werden wir wieder ein bisschen klüger sein. Weil bis dahin aber noch Zeit ist, folgt hier eine kleine Team-Analyse für den Hausgebrauch.
Arkadij Naiditsch ist ein echter Bär, wenn nicht sogar ein Tiger an Brett eins! Er hat sich im Januar für die legendäre A-Gruppe des kommenden Wijk aan Zee-Superturniers qualifiziert, sein Elo-Trend ist umwerfend, und bereits in Porto Carras vor zwei Jahren hat er beeindruckend gegen die anderen Meister gepunktet. Was will man mehr – das erste Brett ist bestens besetzt.
Man sieht ihn bei Baden-Baden leider nicht so oft in der Bundesliga, doch beim Sparkassen Chess Meeting in Dortmund und dem ZMDI Schachfestival von Dresden hat er in diesem Jahr solide bis bestens gepunktet. Auch vor zwei Jahren in Griechenland war Georg Meier eine Bank am zweiten Brett gegen alle Spitzenteams. Top!
Viel wurde schon geschrieben über das junge Talent aus dem Norden, aber was nützt das alles, wenn er dann doch lieber zum Schachspielen nach Indien fährt, als für die deutsche Mannschaft in Warschau zu spielen? Irritierend, und sehr bedauerlich, denn selbst für Brett drei im Team Germany wäre er sicherlich noch eine Verstärkung. Doch es soll wohl nicht sein. Die jungen Leute haben manchmal eben andere Prioritäten, und Indien ist ja auch ein schönes Reiseziel. Dann eben nicht, Magnus! Wir können von Glück sagen, dass es noch andere starke Spieler im Lande gibt – und denken sogleich an …
Hockenheim hat nicht nur eine veritable Formel-Eins-Strecke, landschaftlich schön gelegen und mit Hügeln drum herum, sondern mit David Baramidze auch einen versierten Großmeister in seinem Schachverein. In jungen Jahren sah man Baramidze immer auch mal hoch im Norden beim Kieler Open, später dann bei den Jugendweltmeisterschaften (zweiter Platz!) und in der deutschen Auswahl bei der Olympiade in Dresden 2008. Ab Freitag sichert er nun mit einer Rating von 2614 das dritte Brett verlässlich ab. Willkommen zurück im Team!
Was soll man sagen – durch seine Elo und den Gewinn der Deutschen Meisterschaft 2011 in Bonn steht Igor Khenkin mehr als berechtigt im deutschen Aufgebot. Khenkin ist ein alter Hase, ein Fuchs, alles zugleich, und mit seiner Erfahrung und seinem Spürsinn sicherlich ein gutes Gebot am 4.Brett. Wir hörten zwar, er habe gerade gegen Hanna Maria Klek beim Open in Bad Wiessee verloren. Doch das spricht eher für die aufstrebende weibliche Jugend als gegen Khenkin, der gegen Klek ja dennoch eine tolle Kampfpartie geliefert hat. Da kann man schon mal verlieren. Wichtiger ist in Warschau!
Im Februar spielte Fridman in der Bundesliga gegen Luke McShane. Die Partie im Bremer Weserstadion dauerte neun (in Worten: neun) Stunden und endete erst um 23 Uhr, so dass alle Beteiligten das ZDF-Sportstudio verpassten. Gegen den für seine Knetkünste berüchtigen McShane musste Fridman über viele Stunden ein unschönes Damenendspiel verteidigen. Das will man nicht, doch am Ende hielt er trotz Minusbauer Remis. Das war stark - und wären es nicht allein schon seine Elo und sein guter Teamgeist, so müsste es unbedingt dieses unglaubliche Unentschieden gegen McShane sein, mit der sich Daniel Fridman seinen Platz im Nationalteam gesichert hat.
Dem geübten Leser wird bereits aufgefallen sein, dass die beiden Europameister Rainer Buhmann und Jan Gustafsson in der Nationalelf aktuell nicht mehr mit dabei sind. Wie man hört, wurde Rainer Buhmann offenbar vom SV Hockenheim abgeworben, und bei Jan Gustafsson mag es sogar zwei gute Gründe geben, warum er nicht im Kader steht. Entweder liegt es an seiner inspirierten Homepage, die der ständigen Pflege bedarf, vielleicht aber auch an dem Hamburger Schach-Projekt Cisha, bei dem Jan seit einiger Zeit involviert ist. Da bleibt nicht immer Zeit für Schach, und vor allem für die Vorbereitung auf Schach – wir hoffen aber, dass das nur temporär so ist. Junge, komm' bald wieder!
Aus Bremer Sicht muss ich natürlich fragen, ob nicht vielleicht ein Norddeutscher dem Team ganz gutgetan hätte, jetzt, wo Magnus Carlsen und Jan Gustafsson nicht mehr dabei sind. Wer soll denn nun euphorisch den Pokal in die Höhe reißen bei der Siegerehrung? Bei einem vorsichtigen Blick aufs Herren-Team zeigt sich ein unheimlicher Trend – die Spieler kommen alle aus dem Süden (Naiditsch und Meier: Baden-Baden, Khenkin: Wiesbaden, Baramidze: Hockenheim) oder aus dem Mittleren Westen (Daniel Fridman: Mülheim-Nord)!
Wo sind denn nur die Norddeutschen? Wenn Bundestrainer Uwe Bönsch sonst auch an alles gedacht haben mag – die regionale Komponente scheint mir hier ein wenig vernachlässigt worden zu sein. Kann es ein Trost sein, dass Daniel Fridman für Mülheim-Nord spielt? Na gut, immerhin ein bisschen! David Baramidze war zwar immer schon mal beim Kieler Open mit dabei, und das mit Erfolg, aber so richtig als Norddeutscher geht er damit noch nicht durch (und das will er ja vielleicht auch gar nicht). Doch wie wir soeben feststellten, ist Baramidze nicht nur Bundesligaspieler in Hockenheim, sondern auch Mitglied bei der Kieler SG von 1884/Meerbauer – und wunderbar, das ist ja eigentlich schon norddeutsch genug. Moinmoin also, das Team ist komplett!
Olaf Steffens
Olaf Steffens ist FIDE-Meister, wohnt in Bremen und spielt dort für den SV Werder in der Zweiten Bundesliga. Obwohl das Schachspiel eigentlich viel zu schwierig für ihn ist, versucht er es immer wieder und schreibt darüber zusammen mit anderen auf www.schach-welt.de.
Während der Europameisterschaft in Warschau schreibt er für den Deutschen Schachbund.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 9224