9. Juli 2011
Von Marc Lang
"Was soll das heißen, Turm schlägt c2??? Da stand doch völlig schutzlos meine Dame herum! Und überhaupt, wie kannst Du nach c2 ziehen, wenn doch auf c5 ein schwarzer Bauer...ach so, den hatte ich ja schon im fünften oder sechsten Zug geschlagen, das war mal eine Empfehlung von Jermolinskij. Da sieht man wieder was passiert, wenn man sich blind auf Großmeister verlässt - die lassen bei ihren Spezialvarianten völlig außer Acht, in welche Gefahr sie einen gestressten Blindspieler bringen, wenn sie ihn dazu zwingen, eigentlich unumstößliche Fixpunkte vom Brett zu entfernen. Wer hat je schon einmal ein Wolga-Gambit ohne schwarzen c-Bauern gesehen? Ich jedenfalls nicht und meine Dame auf c2 bestimmt auch nicht. Der schwarze Turm auf c8 aber offenbar schon. Hoffentlich bleibt sie Dir im Hals stecken...."
Entnervt gebe ich die Partie auf, verweigere beleidigt das gierig aufpoppende Revancheangebot und starte einen neuen Suchauftrag auf dem Fritzserver, wo ich seit gut einer Woche täglich 3-4 Stunden damit verbringe, mit Kopfhörern bewaffnet und 5 Minuten pro Partie plus Zugbonus schnellstmöglich auf einem scheinbar leeren Schachbrett herumzuklicken, was für einen Außenstehenden vermutlich sehr nach Demenz im Endstadium aussieht.
Tatsächlich jedoch ist das Brett nicht wirklich leer; ich habe lediglich die Figuren ausgeblendet, um für ein Event zu trainieren, das am 26./27. November 2011 in Sontheim/Brenz (Württemberg) im Rahmen des Sontheimer Blindschachcups über die Bühne gehen wird. An diesem Wochenende soll nämlich der Weltrekord im Blindsimultan fallen, den der polnisch-argentinische Weltklasse-GM Miguel Najdorf 1947 aufgestellt hat, indem er gegen 45 Gegner gleichzeitig antrat, ohne ein Brett zu sehen. Heuer soll es ein Brett mehr sein und beim Gedanken daran, mir 46 Partien über einen Zeitraum von mindestens 24 Stunden merken zu müssen, überkommt mich so ein Gefühl, das man am besten als ungesunde Mischung aus Vorfreude und bevorstehendem Panikmodus umschreiben könnte. Denn der zugehörige Blindspieler oder "Blindsimulant", wie mich ein nicht Schach spielender Freund einmal seiner Frau vorstellte, das bin ich, Marc Lang, ein nur sehr mäßig begabter FIDE-Meister, dessen ELO-Abfall seit einigen Jahren parallel zu dem der Haare verläuft. Aber gut: Noch ist das Event ja beruhigend weit weg und ich kann mich vorläufig darauf beschränken, in den blau-weiß karierten Quadraten auf meinem Bildschirm nach verborgenen Figuren zu graben.
Eine erste Generalprobe findet bereits in gut einer Woche statt: Am 16. Juli veranstaltet die Gemeinde mit der wohl größten Schachspielerdichte Deutschlands (bei rund 6.000 Einwohnern hat der Sontheimer Schachverein derzeit 134 Mitglieder) den Weltrekord im (Vorsicht, höchst fragwürdige Wortschöpfung!) "die-meisten-Blindblitzpartien-hintereinander-spielen".
Hierbei werde ich versuchen, die aus welchen Gründen auch immer in der Wikipedia geführten Bestleistung George Koltanowskis aus dem Jahr 1961 zu brechen, als er 56 Blindpartien in Serie mit jeweils 10 Sekunden pro Zug Bedenkzeit spielte. Zugegebenermaßen kein Rekord, der einem vor lauter Staunen die feuchtigkeitsspendende Schließung des Mundes verweigert. Soll es auch gar nicht werden, vielmehr erhoffen wir uns damit, in der Schachpresse und auch vor Ort auf das eigentliche Blindschachwochenende im November aufmerksam zu machen.
Aber trotz allem steht mir kommenden Samstag eine ziemliche Kraftprobe bevor. Zum einen, weil Blindblitz unheimlich anstrengend ist - wenn man nur einen Moment lang nicht aufpasst ist die Stellung weg, was gerade in der "Auszockphase" sehr schnell gehen kann. Zum anderen, weil der Rekord der öffentlichen Aufmerksamkeit wegen auf dem Straßenfest ausgetragen (und die Partien für das hoffentlich interessierte Publikum auf eine Leinwand übertragen) werden wird. Und das bedeutet in Süddeutschland vor allem eines: Livemusik in Weltuntergangslautstärke aus goldlackierten Metallblasinstrumenten aller Art. Da es für diese ebenso wenig eine Mute-Taste gibt wie für die Ehefrau während der Trainingssessions, spiele ich inzwischen nur noch mit Kopfhörer, über den mir Fritz dankenswerter Weise die Züge direkt ansagt. Und während zu Hause noch ein einfacher Musikkopfhörer genügt, werde ich für das Straßenfest wohl ein Profi-Exemplar für Rollbahn-Fluglotsen brauchen.
Wer möchte, kann die Partien am 16. Juli übrigens live verfolgen: Wir werden an zwei Computern über den Fritzserver spielen und ab ca. 12 Uhr mit den Accounts sksontheim (ich) und sksontheim2 (mein jeweiliger Gegner) aktiv sein. Das voraussichtliche Ende ist nicht abzusehen, aber bei geplanten 60 Partien mit 5+5 Bedenkzeit (also 5 Minuten pro Partie + 5 Sekunden pro Zug) werden wir wohl bis spät in die Nacht agieren...
ZUR PERSON:
Marc Lang ist 41 Jahre alt (Jahrgang 1969), verheiratet, lebe in Günzburg und hat zwei Kinder (9 und eineinhalb). Am 27. und 28.. November 2010 stellte der selbstständige Programmierer , der Schach seit seinem siebten Lebensjahr spielt und im Verein seit dem 12, einen neuen Europarekord im Blindsimultan auf. Der FIDE-Meister vom SV Sontheim/Brenz mit einer aktuellen ELO-Zahl von 2306 erzielte dabei an 35 Brettern 19 Siege, 13 Remis bei nur 3 Niederlagen. Wer noch mehr über Marc Lang wissen möchte, der findet diese Zusatzinfos hier.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 8278