11. Juni 2016
Natürlich freut es den Beauftragten für Schachgeschichte und Schachkultur, wenn seine monatlichen Beiträge auf der DSB-Website wahrgenommen werden. Doch die Resonanz auf die Ausarbeitung über Bernhard Horwitz war so ungewöhnlich, dass ich mit einer gewissen Genugtuung einen Gastautor in diesem Forum präsentieren darf.
Thomas Niessen (*1963) ist Mathematiker, lebt in Aachen und war dort über Jahre in der Jugendarbeit der Schachabteilung des PTSV Aachen tätig. Seit einigen Jahren widmet er sich mit Akribie und großem Sachverstand schachgeschichtlichen Themen. Sein Beitrag schließt aus meiner Sicht eine biographische Lücke, wie der Blick in Chess Personalia von Jeremy Gaige verdeutlicht.
Michael Negele
Zweimal schon standen an dieser Stelle deutsch-jüdische Spieler im Mittelpunkt, die im 19. Jahrhundert Schachmeriten in London erwarben, nämlich Daniel Harrwitz (1821-1884) und zuletzt Bernhard Horwitz (1807-1885). Ein Anderer war ihnen vorausgegangen und erfolgreich in die Elite der Londoner Spieler vorgedrungen. Er hieß W.M. Popert und hat uns etwa sechzig Partien hinterlassen.
Sein vollständiger Name und seine Identität sind bislang ungeklärt. Im 19. Jahrhundert erschien sein Name meist ohne Initialen. Eine Ausnahme ist eine Subskriptionsliste in einem Schachbuch von 1836, worin er als H.W. Popert auftritt, und so nannte ihn auch der britische Schachhistoriker Harold James Ruthven Murray (1868-1955) (British Chess Magazine, 1908, S. 466). Über 100 Jahre war dies unbestritten, doch dank der Bemühungen des britischen Genealogen John Townsend beginnt sich gegenwärtig eine bessere Version des Namens zu verbreiten. Townsend [1] fand in den Akten des London Chess Club viele Erwähnungen Poperts, zunächst als W. Popert, und ab 1839 als W.M. Popert. Außerdem machte er in den Londoner Zensusdaten von 1841 [5] einen im Ausland geborenen, 44-jährigen Kaufmann William M. Popert aus. Da der Name Popert in London sehr selten war, geht er wohl zu Recht davon aus, dass dies ein Eintrag des Schachspielers ist.
Verschiedene Quellen legen Hamburg als Heimat Poperts nahe, und es muss als Glücksfall bezeichnet werden, dass Joachim Grisebach bereits vor Jahrzehnten eine Popert-Chronik für seinen Hamburg-Altonaer Familienzweig vorlegte [2]. Darin gibt es zwar keinen Schachspieler, aber eine Randfigur, deren Lebensdaten verblüffend gut zu den bisher genannten passen. Dies ist Wolf(f) Meyer Popert, geboren am 19. März 1795, ledig verstorben am 3. September 1846, und dieser Mann nannte sich ab einem nicht bekanntem Zeitpunkt Wilhelm. Diese Daten stammen aus den Unterlagen der jüdischen Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek (bis 1812) und deren Nachfolgerin, der Deutsch-Israelitischen Gemeinde zu Hamburg.
Popert ist eine alte Schreibweise des Stadtnamens Boppard, und wurde zum Familiennamen jüdischer Familien [3]. Anfang des 18. Jahrhundert kam eine Witwe Popert mit mindestens vier Söhnen nach Hamburg. Einer dieser Söhne, Juda Levi Popert (gest. 1747), war Armenpfleger der Gemeinde und übte auch Wechselgeschäfte aus. Sein Sohn Wolf Levin Popert (gest. 1791) war Inhaber eines renommierten Hamburger Bankgeschäfts, das damals auf allen wichtigen Handelsplätzen Europas bekannt war. Er war als Geschäftsmann und Wohltäter geschätzt, und setzte sich als Gemeindeältester für das Gemeinwohl ein. Eines seiner Kinder, nämlich Meyer Wolf Popert (1763-1812), führte das Bankhaus des Vaters unter dessen Namen fort.
Als Wolf Meyer Popert 1795 geboren wurde, war die Familie gewiss sehr vermögend. Doch der Vater hatte einem entfernten Verwandten gutmütig Kredit gewährt, den jener jedoch missbrauchte. Eine Börsenkrise 1799 tat ihr Übriges und so folgte 1800 der Bankrott. Finanziell richtig erholt hat sich der Vater wohl nicht mehr. 1805 verzichtete er zum Vorteil seiner Kinder, die gleichzeitig unter Vormundschaft gestellt wurden, auf eine ihm zustehende Erbschaft [4]. Während Napoleons Kontinentalsperre (1806-11) war es so schlimm, dass die Kinder bei Verwandten und Freunden untergebracht werden mussten.
Wolf Meyer Popert hatte viele Geschwister. Vier seiner Brüder erreichten das Erwachsenenalter, und alle vier strebten in kaufmännische Berufe. Levin (Levy) Meyer Popert (1786-1840) betrieb einen Tabak- und Zigarrenhandel. Samuel Meyer Popert (1788-1851) gründete mit seinem Onkel Joel Aron von Halle das Kommissionsgeschäft Popert & von Halle. Joseph Meyer Popert (1797-1868) lernte das Gerberhandwerk in Dänemark oder Schweden. In Hamburg wurde er 1827 zum beeidigten Makler für Häute und Felle bestellt und begründete eine in dieser Branche erfolgreiche Firma. Der jüngste Bruder, Johann Meyer Popert (1804-1870), folgte Joseph 1840 in dieses Metier. Ausgerechnet Wolf Meyer Popert soll Grisebach zufolge eine andere Richtung eingeschlagen haben und Portraitmaler geworden sein. Dies schloss er aus Adressbucheinträgen, die gerade in jenen Jahren, als der Schachspieler in London aktiv war, erschienen. In dieser Zeit ist aber ein Namensvetter in Hamburg bzw. Altona nachweisbar, ein Wolf Abraham Popert (s. Hamburger Nachrichten, 15. August 1841), und so ist eine Fehlzuordnung naheliegend.
Am 5. August 1830 wurde W. Popert in den London Chess Club aufgenommen [1]. Seine älteste bekannte Partie wurde 1832 veröffentlicht und sein Gegner war der beste Spieler Englands, der aus Belfast stammende Alexander McDonnell (1798-1835). Eine weitere Partie zwischen den beiden ist ebenfalls überliefert; beides sind Vorgabepartien McDonnells. Howard Staunton (1810-1874) berichtete später (Chess-Player's Companion, 1849, S. 187), Popert hätte in jener Zeit mehr Partien mit McDonnell gespielt, als jeder andere Spieler. McDonnell bevorzugte in seinen letzten Lebensjahren den 1832 gegründeten Westminster Chess Club, und so ist anzunehmen, dass auch Popert dort verkehrte. In diesem Klub wurden im Sommer und Herbst 1834 die berühmten Matche zwischen McDonnell und Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais (1795/97-1840) ausgetragen. Popert nutzte ebenfalls die Gelegenheit mit dem großen Franzosen zu spielen, was durch drei Vorgabepartien belegt ist.
Nach dem Tod McDonnells (1835) war die Spielstärkepyramide in England weniger hoch als breit. William Lewis (1787-1870), mit dem Popert auch gespielt haben soll, genoß einen sehr guten Ruf, der aber aus vergangenen Tagen herrührte. Als beste Spieler wurden später mehrere Namen genannt, darunter auch der Poperts. 1836 besuchte Pierre-Charles Fournier de Saint-Amant (1800-1872) London, und Popert war der einzige Spieler in England, der das Ergebnis ausgeglichen gestalten konnte (Le Palamède, 1837, S. 481). La Bourdonnais schätzte ihn zu dieser Zeit ähnlich stark wie den Ungarn József Szén (1805-1857) ein (ebendort). Seine zahlreichen, selbstverständlich ohne Vorgaben gespielten Partien mit George Walker (1803-1879), Frederick Lokes Slous (1802-1892) und George Perigal (1806-1855) zeigen, dass Popert unzweifelhaft fest in der Londoner Schachelite etabliert war.
Poperts Spielstil wurde von Staunton als langsam, zurückhaltend und profund beschrieben, was er auf die zahlreichen Partien mit McDonnell zurückführte, der ein starker Angriffsspieler gewesen war. Popert habe, so Staunton, eine Vorliebe für die Verteidigung gehabt, und sein Einfallsreichtum und seine Zähigkeit seien hierbei unerreicht. Saint-Amant schrieb, dass kein anderer Spieler so lange wie Popert über einen Zug nachdenken würde, doch würde auch niemand häufiger den korrekten Zug finden. Augustus Mongredien (1807-1888) wird eine häufig wiedergegebene Äußerung zugeschrieben, wonach Poperts Gegner in komplizierten Situationen getrost zu Tisch gehen konnte. George Walker nannte Poperts Stil ernst und kalt, lobte aber sein Talent zum Gegenangriff und seine Positionsbewertung, worin er niemanden nachgestanden sei, und meinte auch, dass er Endspiele mit großer technischer Genauigkeit geführt habe.
Auch als Spielpartner der aufstrebenden Talente trat Popert hervor. Der später in den Vereinigten Staaten hervorgetretene Charles Henry Stanley (1819-1901), Engländer der Herkunft nach, betrachtete sich als Schüler Poperts. Popert habe ihm zwar keine Vorgaben geben können, doch habe er, um die Chancen auszugleichen, bei den damals üblichen Einsätzen zwei gegen einen Shilling auf den eigenen Sieg gesetzt. Poperts einziges bekanntes formales Match spielte er gegen Staunton, für den dies das erste Match gegen einen renommierten Gegner war. Das Match endete Anfang 1841, ohne dass das Endergebnis bekannt wurde. Staunton veröffentliche zwei Matchpartien in den British Miscellany und einige weitere in dem daraus hervorgegangenen Chess Player's Chronicle. Die ersten beiden Bände dieses Schachmagazins, beide für 1841, enthalten noch weitere Partien zwischen Staunton und Popert, darunter in Goode's Chess Rooms gespielte, sowie eine ganze Reihe von Partien zwischen Popert und John Cochrane (1798-1878). Insgesamt ist 1841 das Jahr, aus dem die meisten Partien Poperts vorliegen.
Hier eine Remispartie Poperts (Weiß) gegen Staunton aus dem 1841 beendeten Match.
Ende des Jahres 1841 teilte Staunton mit, dass die Vorbereitungen für ein weiteres Match zwischen Popert und ihm erledigt seien; der Einsatz solle beträchtlich sein und der Wettkampf im März begonnen werden. Etwa gleichzeitig endete die Mitteilung weiter aktueller Partien Poperts. Die Ursache kann in anderen Quellen gefunden werden. Am 11. September 1842 schreibt George Walker in Bell's Life in London: ,,Der berühmte Londoner Spieler Popert hat England infolge von Krankheit verlassen und ist in sein Heimatland Deutschland zurückgekehrt, um dort für zwei bis drei Jahre zu verbleiben.'' Ein paar Jahre später beschrieb Hugh Alexander Kennedy (1809-1878) genauer, was Popert widerfahren war (Chess Player's Chronicle. 1851, S. 122): "Ein einzigartiges Beispiel dafür, wie eine Krankheit die Fähigkeit Schach zu spielen beeinflussen kann, widerfuhr vor einigen Jahren dem verstorbenen Mr. Popert. Dieser Gentleman, bekanntermaßen einer der kraftvollsten und vollendetsten Spieler Europas, wurde im Zenit seiner Spielstärke von einer Apoplexie oder einer Krankheit ähnlicher Art befallen, und nachdem er sich erholt hatte, wurde festgestellt, dass seine Schachfähigkeiten schrecklich gelitten hatten. Seine Spielstärke war so sehr gesunken, dass er genötigt war, von Spielern eine Springervorgabe zu erhalten, denen er zuvor Bauer und zwei Züge vorgegeben hatte. Kurz gesagt, vom Range eines unzweifelhaft erstklassigen Spielers war er zu dem eines indifferenten drittklassigen Spielers gefallen. (...) Das letzte Mal sah ich ihn im Divan in the Strand [Ries' Divan, heute Simpson's in the Strand - TN]. Der arme Kerl hatte auf der Straße eine Art Anfall erlitten, und war mit schlammbespritzter Kleidung und verzogenem Hut hereingebracht worden. Auf dem Sofa, auf dem auch ich saß, lebte er wieder ein wenig auf, stützte sich an meine Schulter, und versuchte mit matten Augen dem Fortgang einer Partie zu folgen. Ich glaube, Mr. Popert starb kurze Zeit nach diesem Vorfall."
Nach Hamburg zurückgekehrt muss Popert sich zumindest 1842 ein wenig erholt haben, denn gemäß übereinstimmenden Berichten von Tassilo von Heydebrand und der Lasa (1818-1899) und von Saint-Amant, stand er dort nur Horwitz an Spielstärke nach. Das im Horwitz-Beitrag erwähnte Match, welches auf das Quaterly of Chess History 5/2000, S. 130 zurückgeht, ist nicht verbürgt, und möglicherweise durch eine falsche Übersetzung entstanden.
Wolf Meyer Popert alias Wilhelm Meyer Popert starb am 3. September 1846. Er wurde auf dem Grindelfriedhof in Hamburg beigesetzt.
Mein besonderer Dank gilt zwei Personen, ohne die dieser Artikel nicht möglich geworden wäre: Frau Franziska Grisebach danke ich für die freundliche Überlassung eines Exemplars der Popert-Chronik [2] und Herrn Michael Negele danke ich für die Bereitschaft mich als Gastautor zu akzeptieren und dann in wirklich allen Belangen zu unterstützen.
Weiterhin danke ich Tim Harding und Dominique Thimognier für ihre freundliche und schnelle Beantwortung meiner Fragen.
Thomas Niessen
[1] John Townsend, Historical notes on some chess players, 2014, S. 9
[2] Joachim Grisebach, Popert-Chronik: Familie Popert in Hamburg und Altona, 1988
[3] Karl-Josef Burkhard und Hildburg-Helene Thill, Unter den Juden: achthundert Jahre Juden in Boppard, 1996
[4] Senatsbeschluss vom 25. Januar 1805, abgedruckt in Gutachten nach jüdischen Gesetzen (...) von Oluf Gerhard Tychsen, 1806
[5] National Archives, HO 107 720/13, f. 16.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 21027