von Willi Weyer
Ansprache von Dr. h. c. Willi Weyer, Präsident des Deutschen Sportbundes, anlässlich des 100jährigen Jubiläums des Deutschen Schachbundes am 12. März 1977 in Bad Lauterberg
Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
liebe Freunde,
100 Jahre Deutscher Schachbund - das ist auch für den Deutschen Sportbund ein besonderes Ereignis. Vor Ihrem Gründungstag am 18. Juli 1877 in Leipzig gab es aus der 14-Millionen-Familie des deutschen Sports, wie wir sie heute kennen, nur erst den Deutschen Schützenbund (1861 in Gotha) und die Deutsche Turnerschaft (1868 in Weimar). Erlauben Sie mir dennoch, die freundschaftlichen Grüße und Wünsche des DSB-Präsidiums in eine kleine Reminiszenz zu kleiden, die beschreiben soll, wie lang und weit der Weg zueinander war und wie fest die Bindung inzwischen ist. Heute verstehen wir das Schachspiel als Sport, als einen Sport, der den ganzen Menschen fordert.
Als der Deutsche Sportbund am 10. Dezember 1950 in Hannover gegründet wurde, drang Ihr damaliger Präsident Czaya mit seinem Plädoyer auf Aufnahme des Deutschen Schachbundes in den DSB nicht durch. "Zugegeben," beschwor er damals seine Widersacher, "Schach ist zwar keine körperliche Ertüchtigung, aber mit unseren Zielen des Wettkampfes, der Leistung und der internationalen Regeln fühlen wir uns dem Sport doch eng verbunden, denn schließlich geht der Sport mit dem geistigen Prinzip seiner höchsten Leistungen selbst weit über das hinaus, was man landläufig unter körperlicher Ertüchtigung versteht."
Wenn der Deutsche Schachbund dann später in den DSB aufgenommen wurde, muss das nicht bedeuten, dass damit Präsident Czayas weise Voraussicht inzwischen allgemeine Erkenntnis geworden ist. Aber, die Einsicht, dass wir die geistige Einheit des Sports - Mensch und Moral, Sinn und Ziel - wiedergewinnen müssen, wenn wir nicht vom Wege der Menschlichkeit abkommen wollen, ist gewachsen.
Die Montrealer Spiele waren ein Menetekel. Nicht die Leistung allein, das geistige Prinzip der Leistung, das auch Schach und Sport verbindet, wird die neuen Dimensionen der Entwicklung bestimmen und ihre Grenzen zeigen.
An den Entwicklungsschritten des Schachspiels ist einiges davon abzulesen. Sein Ursprung liegt weit vor der Zeitenwende in Indien. Die monumentale Geschlossenheit dieses friedlichen Kampfspiels unter den Gesetzen der Gleichheit und Gerechtigkeit und die unwandelbare Totalität seines Systems kennzeichnen die Macht des Geistigen. In den frühen buddhistischen Klöstern soll es ersonnen worden sein. War es die geniale Idee der Mönche, in diesem Spiel den Geist der Gewaltlosigkeit, wie ihn der Buddhismus lehrt, zu propagieren? Der Gedanke kommt einem jedenfalls.
In seinem Wechselspiel vom Raum der Felder und der Kraft der Figuren, von Zug und Zeit, symbolisiert es das menschliche Leben, folgt es den großen Linien der historischen Entwicklungen. Weisheit, Vernunft und Witz vieler Völker stecken in ihm. Kein Wunder, dass man Wesen und Wirklichkeit dieses Spiels nur aus Geschichte, Philosophie, Kunst, Soziologie, Psychologie, Futurologie, Mathematik, Literatur und vielen anderen Wissengebieten erklären kann.
Auf dem Weg über Persien und Arabien kommt es nach Spanien, von dort nach Mitteleuropa und verändert sein Grundgefüge nur noch ein einziges Mal, in der Renaissance, einer der bewegtesten Epochen unserer Zeit, als die Gangart von Dame und Läufer erweitert und die Rochade eingeführt wurde. Dies war die Geburtsstunde des modernden Schach.
Als Mittel der Bildung - als Ritterspiel - gelangt es im Mittelalter zu hoher Blüte. Es blieb aber immer noch ein namenloses Spiel. Man spricht von der spanischen Eröffnung oder von der französischen Verteidigung, aber nicht von großen Spielern.
Erst das neuzeitliche Schach auf dem Weg zum Sport führt uns die Stars von André Philidor bis Bobby Fischer vor. Ob sie sich nun als Künstler, Spieler, Wissenschaftler oder Sportler verstehen, ihr Stil trägt alle Merkmale unserer industrialisierten Welt: es kommt nicht immer nur darauf an, den schönsten Zug zu finden, sondern in begrenzter Zeit die richtige Entscheidung zu treffen, denn eine Niederlage wegen Zeitüberschreitung wird nicht anders gewertet als eine mit genialen Ideen. Dieses sportliche Schach mit Turnieren, Länderspielen, Olympiaden, Herausforderungsrunden und Weltmeisterschaften in der weltumfassenden Schachgemeinde der FIDE darf wohl als der eigentliche abendländische Beitrag zur weiteren Entwicklung dieses Spiels gewertet werden. Auch die Schach-Theorie als Wissenschaft mit Eröffnungs-, Mittel- und Endspiel hat hier ihren Ursprung.
Die Welt der modernen Kultur, Zivilisation und Technik prägte als die weitere Entwicklung des Schachspiels nicht weniger als die des Sports. Elemente der Bildung, der Kunst und der Wissenschaften führten beide dabei immer enger zusammen, so dass Schach - zumindest in der Form des Turnierschachs - heute unbestreitbar als Sport anzusehen ist.
Fast alle dem Sport zugeschriebenen Eigenschaften weist das Schachspiel ebenfalls auf und zeigt zusätzliche wichtige Merkmale für die Bildung der Persönlichkeit, die anderen Sportarten fehlen.
Schach erzieht zu folgerichtigem Denken, erhöht die Kombinationsfähigkeit, regt die schöpferische Phantasie an, hebt den Mut zum Risiko, fördert die Entschlusskraft, übt die kritische Einstellung zu sich selbst und anderen gegenüber, stärkt Geduld und Zuversicht. So kann der Schachspieler alle Eigenschaften eines guten Sportmanns erwerben und in der Anspannung alle intellektuellen und willensmäßigen Kräfte bewähren.
Aber nicht nur der einzelne trägt für seine Persönlichkeit den Gewinn davon: Die Fortentwicklung des Schachs zu seiner jetzigen theoretischen und praktischen Höhe ist zum allergrößten Teil dem Sportgeist zu verdanken.
Allein im Einsatz aller Kräfte entstehen die höchsten Leistungen. Alle analytischen Bestrebungen und Arbeiten werden doch nur in den seltensten Fällen um ihrer selbst, der rein wissenschaftlichen Erkenntnis willen, betrieben, sondern ihr Zweck ist die Probe aufs Exempel, das Ringen um das Ergebnis.
Schach ist nicht immer Sport gewesen, aber unter dieser Zielsetzung und den veränderten Gesetzen unserer Zeit zum Sport geworden.
Erwarten Sie nun nicht von mir die Quadratur des Kreises einer gesicherten Begriffsbestimmung des Sports: aus seiner uneinheitlichen Erscheinung resultiert die Unsicherheit einer für alle Sportarten gemeinsamen Aussage.
Zusammengenommen kann das Wesen des Sports allerdings mit folgenden Merkmalen umrissen werden: Zugänglichkeit für alle, Spielcharakter, Leistungsprinzip, Regelgebundenheit, Wettkampfform, Organisationsstruktur, Internationalität und körperliche Betätigung.
Als Auswirkungen des Sports werden besondere Eigenschaften wie Ausdauer, Belastbarkeit, Aktivität, Selbstbewusstsein, Leistungsbereitschaft, Selbstkritik, Toleranz, Fairness und soziale Einstellung festgehalten. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass diese positiven Effekte auch für den Schachsport zutreffen. Das Wettkampfsystem ist auf das Leistungsprinzip ausgerichtet. Turnier- und Spielordnungen regeln Partien und Wettkämpfe mit dem Gebrauch einer Schachuhr, Unterbrechungen, Aufzeichnungen, Klasseneinteilung etc. Die meisten Mitglieder eines Schachvereins sind das ganze Jahr über wettkampfmäßig tätig.
Der Deutsche Schachbund mit seinen über 55.000 Mitgliedern in 2.000 Vereinen oder Abteilungen ist genauso organisiert wie andere Sportverbände auch. 97 Mitgliedsorganisationen gehören dem Weltschach-Verband (FIDE) an, der die großen internationalen Turniere und Wettkämpfe ausrichten lässt. Von 1851 bis 1950 waren es 700 Meisterturniere; in den letzten 25 Jahren wurden mehr Turniere gespielt als in den vorausgegangenen 2 Jahrhunderten.
Das Schachspiel hat seine eigene internationale Sprache, die Notation. Die aufgeschriebene Partie kann jeder Schachspieler lesen, verstehen und nachspielen. So offen wie das Spiel ist, sind auch die Vereine: jeder darf mitmachen!
So gesehen gehört der Deutsche Schachbund zu den modernsten Verbänden des DSB.
Wer aber Meister werden will, der muss lernen, die Summe der Erfahrungen dieses Spiels nachzugestalten. Die alte Lebensregel, dass Talent vor allem Fleiß ist, gilt auch für das sportliche Schach. Selbst der Meister wäre machtlos, könnte er sich nicht auf die umfangreichen theoretischen Erkenntnisse stützen, die seit der ältesten Aufzeichnung einer Partie im Jahr 1475 in mehr als 12.000 Büchern, in Zeitschriften und ungezählten Schachspalten der Presse gesammelt wurden.
Schach kennt keinen Zufall; seine Gleichung mit unendlich vielen Unbekannten wird gelöst aus der schöpferischen Kraft der Persönlichkeit. Stümper haben keine Chance - wie überhaupt im Sport.
Wer dem Turnierspieler seine hohe körperliche Anstrengung bestreitet, der weiß nicht, wovon er spricht. Viele Untersuchungen weisen nach, dass Herz, Atemfrequenz, Blutdruck und Hautreaktion hohen Belastungen unterworfen sind, und enorme Gewichtsverluste während eines Turniers auftreten, so dass auch für Schachspieler eine bestimmte Lebensweise mit regelmäßigem Training, Ausübung anderer Ausgleichssportarten und gesunde Ernährung notwendig ist. Es kann deshalb nicht überraschen, dass hervorragende Schachspieler auch Meister in anderen Sportarten gewesen sind.
In einer psychologischen Untersuchung der Justus-Liebig-Universität Giessen wurde über den Nachweis hinaus, dass die dem Sport allgemein zugeschriebenen förderlichen Wirkungen auch auf Schach zutreffen, noch eine Reihe spezifischer Merkmale verzeichnet, von denen positive Auswirkungen auf weite Bereiche der Persönlichkeit ausgehen wie gesteigerte Konzentrationsfähigkeit, anhaltende Aufmerksamkeit, Aufnahme komplexer räumlicher Sachverhalte, verbessertes Gedächtnis, erhöhte Fähigkeit zur kritischen Analyse und effektivere Vorausplanung. Es zeigt sich somit, dass der Schachsport ein ganzes Bündel positiver Wirkungen hervorruft, die in ihrer Gesamtheit zu einer allgemeinen körperlichen und geistigen Leistungssteigerung führen, die sich auf allen Gebieten des täglichen Lebens auswirken.
Diese Feststellungen sind nicht nur eine Verteidigungsrede für den Schachsport im Ringen um die Gemeinnützigkeit der Schachvereine keine Feststellungen allgemein, sondern gleichzeitig auch eine Begründung dafür, dass sich Schach hervorragend als Unterrichtsfach an Schulen eignen würde. Es müssen ja nicht gleich Schachschulen sein wie in der Sowjetunion, es würde vielmehr genügen, wenn man die erfolgreichen Versuche in Bremen und Hamburg weiter ausbaut und damit den Beispielen in Frankreich, Jugoslawien, Ungarn, Holland, Schweden und Dänemark folgt. In einer Zeit, in der unsere Schulen immer mehr zu Paukanstalten absinken und nicht kreative junge Menschen, sondern Numerus-clausus-geschädigte sture Streber in das Leben entlassen werden, würde Schach eine Bereicherung jenes Kanons von Fächern wie Musik, Sport und Kunst sein, die besonders die schöpferischen Kräfte fördern.
Vielleicht darf ich die Kultusminister in diesem Zusammenhang an den berühmten amerikanischen Gelehrten, Staatsmann und Pädagogen Benjamin Franklin erinnern, der vor 200 Jahren die erzieherischen, ethischen und moralischen Aspekte dieses Spiels besonders gewürdigt und festgestellt hat: "Das Schachspiel ist nicht eine bloß müßige Unterhaltung. Verschiedene sehr schätzbare und im Laufe des menschlichen Lebens nützliche Eigenschaften des Geistes können dadurch erworben und gekräftigt werden, so dass sie zu Gewohnheiten werden, die uns nie im Stich lassen."
Das Franklin-Wort gilt vor allem für die Statthalter der Gemeinnützigkeits-Paragraphen, die die Schachvereine weiterhin auch nach der neuen Abgabenordnung nicht begünstigen wollen, weil Schach ihrer Auffassung nach keine körperliche Ertüchtigung sei. Welch ein Irrtum soll hier zum Gesetz erhoben werden. Die Entwicklung ist längst über den Sport als körperliche Ertüchtigung hinausgegangen.
Soziale, psychologische, pädagogische und freizeitpolitische Wirkungen stehen im Sport unserer Zeit gleichrangig neben den körperlichen. Unter diesem Aspekt hat auch der Schachsport ein Recht darauf, als gemeinnützig in Sport, Jugendpflege und Bildung anerkannt zu werden. Sie haben den DSB dabei auf Ihrer Seite.
Schach ist ein Spiel der großen Entwürfe, der Einsichten und Voraussichten, eine Art futurologisches Spiel. Es ist aber auch ein Spiel für alle, für Männer und Frauen, jung und alt, Gesunde und Kranke, Starke und Schwache - ein wirklich demokratisches Spiel. Es mag deshalb sein, dass die Verbindung des Schachs zum Sport auch in Ihren Reihen nicht überall gern vernommen und im weiteren Eindringen sportlicher Elemente ein Verlust der künstlerisch-schöpferischen Komponenten gesehen wird. Der Sport hätte aber in das Schachspiel kaum so leicht eindringen können, wenn es nicht seiner ganzen Anlage nach dazu prädestiniert gewesen wäre. Der große Aljechin sieht in den Schachspielern, die sich nur an der ästhetischen Seite des Spiels begeistern und keine sportlichen Eigenschaften aufzuweisen haben, die "Schachtragiker", die neben der Entwicklung herlaufen. Im Schachspiel haben Computer keine Chance gegen den menschlichen Geist, denn sie besitzen keine Kreativität und Urteilskraft, sie können nur immer weitere Berechnungen anstellen, aber nicht auswählen und entscheiden.
Der ehemalige Schachweltmeister und derzeitige Professor für Kybernetik, FIDE-Präsident Dr. Max Euwe, erwartet nicht, dass Computer ihre Spielstärke noch wesentlich steigern. Der Wert einer Stellung ändert sich mit jedem Zug grundlegend, und so wird es dem Computer nicht anders ergehen wie dem König, der einen weisen Mann belohnen wollte. Dieser wünschte sich ein Getreidekorn auf das erste Schachfeld und fortlaufend immer das Doppelte an Getreidekörnern für jedes weitere Feld. Der Herrscher geriet über diesen scheinbar bescheidenen Wunsch in Zorn, musste jedoch bald erkennen, dass es die verlangte Getreidemenge auf der ganzen Erde nicht gab.
Dieses Rechenexempel gibt eine Vorstellung von den unvorstellbaren Möglichkeiten im Schach, die uns gleichzeitig wieder auf das geistige Prinzip des Sports zurückführen. Der Mensch kann sich eben nicht teilen. Immer erkennbarer nähert sich die Technik dem Zustand der Vollendung. Schon begreifen wir, dass sie aber auch keinen Fortschritt mehr bringt, dass sie nicht glücklich macht und nicht der Sinn unseres Lebens ist, sondern nur ein Mittel. Diesem Entwicklungsgesetz sind wir alle unterworfen. Vielleicht wird sich um das Jahr 2000 der Sport als Lebenssinn ebenso verbraucht haben wie Arbeit und Technik. Sport wird immer sein, aber er wird anders sein. Und das Schachspiel?
Die Kulturgeschichte des Schachs lehrt uns diesen Wandel und manifestiert gleichzeitig die Idee dieses Spiels, von dem Stefan Zweig in seiner Schachnovelle sagt: "Uralt und doch ewig neu, mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt im starren Raum und dabei unbegrenzt in seinen Kombinationen, ständig sich entwickelnd und doch steril, ein Denken, das zu nichts führt, eine Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur ohne Substanz und nichts desto minder dauerhafter in seinem Sein und Dasein als alle Bücher und Werke, das einzige Spiel, das allen Völkern und allen Zeiten zugehört und von dem niemand weiß, welcher Gott es auf die Erde gebracht hat, um die Langeweile zu töten, die Sinne zu schärfen, die Seele zu spannen" ... und den Körper zu stärken, setze ich hinzu.
Auf diese schöpferische Kraft setzen wir gemeinsam. Sie wird uns nicht im Stich lassen, wenn wir uns wieder auf die feinen Beziehungen der körperlichen Kräfte zu denen des Geistes, des Willens und des Mutes besinnen, zu jenen Kräften also, die auch mit dem Phänomen der Freiheit und des Friedens unlösbar verbunden sind. Es sind die gleichen Phänomene, die unser Spiel in seiner menschlichen Existenz gestaltet haben, seit uralter Zeit.
In dieser Einsicht bin ich Ihnen verbunden, wünsche ich Ihnen eine gute Zukunft.